Frida Kahlo: wenig bekannte Werke
14. August 20211951 vermerkt Frida Kahlo in ihrem Tagebuch: "Mir geht es schon seit einem Jahr schlecht. Sieben Operationen an meiner Wirbelsäule. Dr. Farill hat mich gerettet und mir die Freude am Leben zurückgegeben. Ich sitze noch immer im Rollstuhl und ich weiß nicht, wann ich wieder laufen kann... Aber ich will leben. Ich habe bereits mit einem kleinen Gemälde begonnen, das ich Dr. Farill schenken möchte. Ich mache es mit größter Zuneigung für ihn."
Dieses "kleine Gemälde" ist unser Artikelbild. Es sollte sich als das letzte Selbstporträt erweisen, das die mexikanische Künstlerin malte und mit ihrer Unterschrift versah.
Aber wer war Dr. Farill? Und warum trägtFrida Kahlo auf diesem Bild die weiße Robe? Was hat der Katholizismus mit der Palette auf ihrem Schoß zu tun? Handelt es sich überhaupt um eine Palette oder vielmehr um ein anatomisches Herz?
Diese und viele weitere Fragen rund um die Entstehungsgeschichten von Kahlos Werken beantwortet ein voluminöser Bildband "Frida Kahlo: Sämtliche Werke", der am 14. August im Taschen-Verlag erscheint.
Neue Einsichten zu ihrem Gesamtwerk
Der mexikanische Kunsthistoriker Luis-Martin Lozano und seine Co-Autoren Andrea Kettenmann und Marina Vazquez Ramos haben das ehrgeizige Projekt in Angriff genommen, um den Menschen ein tieferes Verständnis für die Künstlerin Kahlo zu vermitteln.
Wer sie als Künstlerin war und was sie über ihre Werke dachte, darüber sei bislang nichts bis wenig bekannt, erklärt Historiker und Autor Lozano in einem Interview mit der BBC. Er fügt hinzu, dass über einige ihrer Werke "erstaunlicherweise niemals ein einziger Satz" geschrieben worden sei. Andere seien entweder falsch betitelt oder datiert. "Aus Sicht der Kunstgeschichte ist das ein Chaos", so der Historiker weiter.
Sein Buch gleicht einer intensiven Studie jedes einzelnen ihrer insgesamt 152 Gemälde, die zwischen 1924 und 1954 entstanden sind, identifiziert nach ihrer Herkunft und Ausstellungsgeschichte. Mithilfe von Fotos werden zudem die Gemälde analysiert, die zerstört wurden oder deren Verbleib unbekannt ist.
Heutzutage ist Frida Kahlo vor allem für ihre eindrücklichen Selbstporträts bekannt. Darauf blickt sie dem Betrachter fest und unbeirrt entgegen, ihre Haare sind häufig mit Blumen zu Zöpfen hochgesteckt, sie trägt traditionelle mexikanische Gewänder, auffällige Accessoires. Ihre charakteristische Augenbraue und ein angedeuteter Schnurrbart sind hervorgehoben, beides Attribute, die den konventionellen Schönheitsidealen widersprechen.
Ihre Selbstporträts machen ein Drittels ihres Gesamtwerks aus. Sie - manchmal reicht auch nur ein Ausschnitt ihrer Augenbraue aus - sind seit langem Verkaufsschlager. Aufgedruckt auf Yogakissen, Blumentöpfe oder sogar auf Verpackungen von Gesichtsmasken sind sie ein Muss für eingefleischte Frida-Fans und solche, die es werden möchten.
Auch viele prägende Erlebnisse und ihre Vorlieben sind dokumentiert: der Busunfall, den sie im Alter von 18 Jahren überlebt, woraufhin sie über Monate ans Bett gefesselt war und in der Kunst ein Ventil findet. Auch ihre ausschweifende Beziehung mit dem Maler Diego Rivera ist hinlänglich bekannt: die Untreue auf beiden Seiten, die sexuellen Eskapaden mit verschiedenen Partnern beider Geschlechter. Man weiß, dass ihr Herz gebrochen war, weil sie nie ein Kind bekommen konnte.
Sie liebte die Flora und Fauna und entwickelte ihren ganz eigenen, von ihrem mexikanischen Erbe geprägten, wilden unnachahmlichen Stil.
Nur wo bleibt dabei die Kunst?
Zur Stil-, Feminismus- und LGBTQ-Ikone erkoren, habe ihr bewegtes Leben ironischerweise von ihrem Weg als Künstlerin und der Geschichte hinter ihrer Kunst abgelenkt, so Lozano. Die Menschen betrachteten ihre Gemälde entweder durch die Linse ihres öffentlich gemachten Privatlebens oder fühlten sich überwiegend von ihren bekannteren Werken angezogen.
Auf insgesamt 624 Seiten bringt der neue Bildband Lesenden diese erstaunliche Künstlerin näher. Vielfach werde man darin von Werken überrascht, die man nicht unbedingt mit Kahlo in Verbindung brächte, schreibt Lozano in seinem Buch. Dazu gehörten Bleistiftskizzen wie "Selbstbildnis die Narbe zeigend" (1938), Stillleben wie "Lang lebe das Leben" (1953), surrealistische Werke wie "Was das Wasser mir gab" (1938-39) und frühe Porträts, die sich in Stil und Wiedergabe von ihren berühmten späten Werken unterscheiden.
Das Herzstück des Buches ist jedoch der über 100 Seiten starke Katalog, in dem Lozano und seine Kollegen die Geschichte, den Kontext und manchmal sogar die Besitzverhältnisse rund um Kahlos Werke akribisch recherchiert haben. Begleitende Interviews, Zeitungsartikel, Fotografien, Notizen, Tagebuchseiten und persönliche Briefe vervollständigen die Entstehungsgeschichten.
Dabei werden auch alltägliche Situationen aus dem Leben einer Künstlerin angesprochen: So hat sie etwa das "Selbstporträt mit Xoloitzcuintli Hund" (um 1938) über ein früheres Bild gemalt. Bedenkt man die Situation, in der sie sich zu der Zeit befand, spekulieren die Historiker, dass sie die Leinwand aus Geldknappheit wiederverwendet hat, oder sie womöglich unter Zeitdruck stand, um Werke für eine Ausstellung zu liefern.
Ihrem Chirurgen Dr. Juan Farill vermachte Kahlo ein weiteres Stillleben. Auf die kleine mexikanische Flagge, die in die Wassermelone gestochen ist, steht geschrieben: "Es lebe das Leben und Dr. Juan Farill".
Ältere Fotos des Werks zeigen, dass sie ursprünglich "Juanito" geschrieben hatte - eine informelle Abkürzung des spanischen Namens Juan. Möglicherweise kamen ihr dann aber doch Bedenken, einem Mann, den sie sehr schätzte, so vertraut anzureden. Daraufhin übermalte sie die ursprüngliche Widmung, was dazu führte, dass die jetzige leicht verwischt ist.
Weitere Punkte, die in dem Band behandelt werden, sind etwa die religiöse und kulturelle Symbolik in Bezug auf die Wahl der Farbpalette, der Kleidung, Motivpositionen, Früchte und Tiere. Besprochen werden viele Details, die dazu beitragen, ihre Kunst besser zu verstehen. Das Buch zeichnet den Weg nach, den Kahlo gehen musste, um zu der Künstlerin zu werden, an die man sich heute erinnert. Ihre Menschlichkeit, ihre Zerbrechlichkeit hat sie dabei in herausragender Weise auf ihren Leinwänden festgehalten.
Frida Kahlo. Sämtliche Gemälde. Luis-Martín Lozano, Andrea Kettenmann, Marina Vázquez Ramos. 624 Seiten, 150 Euro, taschen.com
Dieser Text erschien zuerst auf Englisch und wurde von Annabelle Steffes-Halmer ins Deutsche adaptiert.