Türkei Eskalation
14. März 2014Viele Türken haben den Staatsstreich vom 12. September 1980 nicht mehr selbst miterlebt, denn das Durchschnittsalter im Land liegt bei etwa 30 Jahren. Trotzdem ist der Putsch allgegenwärtig. Das Trauma der blutigen Auseinandersetzungen auf den Straßen der Türkei und der anschließenden Massenverhaftungen, Folterungen und Hinrichtungen durch die Militärs wirkt bis heute nach. Der Begriff "12. September", wie der Putsch im politischen Sprachgebrauch bezeichnet wird, steht für Chaos, Gewalt und Kriegsrecht.
Die Auseinandersetzungen der jüngsten Zeit lassen dieses Trauma neu aufleben. Im vergangenen Jahr antwortete Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan auf die Proteste gegen ein Bauprojekt im Istanbuler Gezi-Park mit harten Polizeieinsätzen. Auch die Trauerfeier (12.03.2014) für den damals verletzten und nach mehreren Monaten im Koma diese Woche gestorbenen Jugendlichen Berkin Elvan mündete in Gewalt. Erdoğan und seine Gegner stehen sich kurz vor der Kommunalwahl am 30. März unversöhnlich gegenüber.
"Nie da gewesene Polarisierung"
"Die Türkei erlebt eine noch nie da gewesene Polarisierung", schrieb die Kolumnistin Nagehan Alçı in der Zeitung "Milliyet" Anfang März. Der einzige Trost sei, dass noch keine Schusswaffen eingesetzt worden seien: "Ansonsten gleicht die Polarisierung der Dimension von vor dem 12. September."
Inzwischen ist die Lage weiter eskaliert. Keine zwei Wochen nach Veröffentlichung von Alçıs Kommentar wurde in Istanbul ein 22-Jähriger am Rande von Ausschreitungen nach der Elvan-Trauerfeier mit einem Kopfschuss getötet. Die linksextreme Gruppe DHKP-C übernahm die Verantwortung.
Kritiker geben Erdoğan die Schuld
Der Tod des 22-Jährigen war ein Schock. Nach den Straßenschlachten der vergangenen Tage riefen mehrere Parteien ihre Anhänger zu Ruhe und Zurückhaltung auf. In türkischen Internetforen kursieren Appelle, in denen die Menschen aufgefordert wurden, sich bis auf Weiteres nicht mehr an Demonstrationen zu beteiligen, weil die Gefahr bestehe, dass Provokateure weiteres Blutvergießen anrichten könnten. "Ein Menschenleben ist mehr wert als jede Ideologie", hieß es in einem Aufruf.
Regierungskritiker sehen die Schuld für die wachsenden Spannungen vor allem bei Erdoğan. Der Premier hat bisher kein Wort der Anteilnahme über den Tod Berkin Elvans gesprochen und sich stattdessen über Sachschäden an Wahlbüros seiner Partei AKP beklagt. Die Demonstranten bezeichnete er als "Vandalen".
Der Oppositionspolitiker Müslim Sarı sagte dazu, ein Ministerpräsident, der Gewaltopfer in "meine Tote, deine Tote" einteile, dürfe nicht mehr regieren. Erdoğan treibe die Polarisierung immer weiter voran, empörte sich auch der Kommentator Hasan Cemal in einem Beitrag für das Internetportal T24. "Hört ihr denn nicht die Schüsse der Gewehre?", fragte er. Wenn Erdoğan so weitermache, werde er die Türkei "in Brand setzen".
AKP will verunsicherte Anhänger zurückgewinnen
Auch der Ankaraner Politologe Fethi Açıkel vermutet, dass Erdoğan und die AKP ein Interesse daran haben, vor der Wahl am 30. März die Stimmung anzuheizen. Viele AKP-Wähler seien wegen der Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung und wegen des zunehmend autoritären Stils des Ministerpräsidenten verunsichert, sagte Açıkel der Deutschen Welle. Diese Wähler sollten zurückgewonnen werden. "Die AKP will die Spannungen erhöhen und sich selbst als Opfer von Angriffen präsentieren, um ihre Anhängerschaft auf diese Weise wieder um sich zu scharen."
Dem Vergleich mit der Lage von vor 1980 möchte sich Açıkel dennoch nicht anschließen. Dafür seien die Ausgangssituationen zu verschieden, sagt er. Der Journalist Aydın Engin, der vom Putsch 1980 zur Flucht nach Deutschland gezwungen wurde, hält die Situationen von damals und heute ebenfalls für nicht ganz vergleichbar. Vor dem Staatsstreich hätten sich Links- und Rechtsextreme fast täglich tödliche Auseinandersetzungen geliefert, dagegen sei die Polarisierung von heute eher auf der politischen Ebene zu beobachten, sagte Engin der Deutschen Welle.
"Die Gefahr heute besteht in einem politischen Chaos, das entstehen könnte", so Engin. Anders als in der Zeit vor 1980 würden die Gegensätze heute aber nur in Ausnahmefällen mit Waffen ausgetragen. "Damals waren beide Seiten bewaffnet. Das ist heute nicht der Fall, zumindest noch nicht."