Fußball-EM als Rettungsring für Erdogan?
15. Juni 2021Endlich Fußball! Die Europameisterschaft kommt der Regierung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan sehr gelegen. Dringend braucht sie einen neuen Aufreger oder wahlweise gute Nachrichten, um die ernsten wirtschaftlichen und politischen Probleme im Land zu überlagern. Zuletzt war die Regierung durch die aufsehenerregenden Anschuldigungen eines flüchtigen Mafiabosses schwer unter Druck geraten. Sedat Pekers wöchentliche Enthüllungsmonologe über den "Staat im Staate" gingen als YouTube-Videos viral, seit Anfang Mai wurden sie insgesamt mehr als 100 Millionen Mal aufgerufen.
Einst Anhänger, jetzt auf der Flucht
Peker war einst Anhänger von Erdogans Regierungspartei AKP. 2019 floh er aus der Türkei - angeblich, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Nach eigenen Angaben hält er sich jetzt in Dubai auf. Seine Anschuldigungen gegen aktuelle und ehemalige Regierungsmitglieder reichen von Korruption, verdeckten Waffenlieferungen über Drogenschmuggel bis hin zu Vergewaltigungen und ungeklärten Morden. In Pekers Fokus stehen besonders Präsident Erdogan und Innenminister Süleyman Soylu. Beide weisen alle Vorwürfe zurück. Erdogan wirft der Opposition vor, sich auf "Verleumdungen krimineller Gruppen" zu stützen. Soylu, von der Opposition zum Rücktritt aufgefordert, spricht von einem "Komplott gegen die Türkei".
Der Start der Europameisterschaft hat die fußballverrückte Türkei vorübergehend von der Affäre abgelenkt. Dieser Effekt werde jedoch nur einige Tage vorhalten, glaubt Erdogan Toprak. "Die Türkei hat so große Probleme, dass sie nicht durch ein Fußballspiel verdeckt werden können", sagt der Parlamentsabgeordnete der größten Oppositionspartei CHP der DW. Der ehemalige stellvertretende CHP-Vorsitzende weist auf die hohe Arbeitslosigkeit in der Türkei hin, die steigenden Lebenshaltungskosten, die Einnahmeausfälle im Tourismus durch das Missmanagement der Regierung und die angebliche frühere Zusammenarbeit zwischen Mafiaboss Peker und Erdogans Partei.
Arif Kizilyalin, Sportkolumnist der türkischen Oppositionszeitung "Cumhuriyet", ist derselben Meinung wie Toprak. "Die Probleme in der Türkei sind über den Punkt hinaus, an dem der Fußball sie vergessen machen kann", sagt Kizilyalin der DW. "In Lateinamerika und Spanien gab es einmal den Spruch 'Fußball ist das Opium des Volkes'. Aber es gibt weder eine Medizin noch eine Droge, die die Schmerzen betäuben kann, die durch die Probleme in der Türkei entstehen."
Und weiter: "Ich hoffe, dass die Türkei sich begeistert hinter der Nationalmannschaft versammeln wird. Aber auf der anderen Seite werden der wirtschaftliche Abschwungmit der türkischen Lira auf einem Allzeittief und auch die Anschuldigungen von Sedat Peker nicht vergessen werden. Niemand kann sich hinter der türkischen Nationalmannschaft verstecken und glauben, dass die Menschen diese Dinge vergessen."
Der türkische Fußball ist schon lange mit der Politik verflochten. So gehört Nihat Özdemir, Chef des türkischen Fußballverbands TFF, zu einer Handvoll von Unternehmern, die angeblich von der Regierung begünstigt werden und sehr enge Beziehungen zu Erdogan haben.
Erfolge für Propaganda-Zwecke
Beobachter wie Toprak und Kizilyalin glauben, dass die türkische Regierung versuchen wird, eine mögliche Erfolgsgeschichte der Nationalmannschaft bei der EURO 2020 auszunutzen. "Ich wünsche der türkischen Nationalmannschaft von ganzem Herzen, dass sie erfolgreich ist. Wir sind immer stolz auf einen solchen Erfolg. Aber sie werden es definitiv für Propaganda nutzen, weil es keine positive Entwicklung in dem Land gibt, das sie regieren. Aber ein sportlicher Erfolg wäre nicht ihr Verdienst", sagt Toprak. Und Sportjournalist Kizilyalin fügt hinzu: "Die Nationalmannschaft ist nicht die Mannschaft von Präsident Erdogan." Der Trainer heiße schließlich Senol Günes.
Wieder ein schlechter Start
Und der will an den Erfolg aus dem Jahr 2002 anknüpfen, als er sein Team auf den dritten Platz der WM in Japan und Südkorea führte. Immer noch inspirierend wirkt auch die Erinnerung an den dritten Platz bei der EM 2008, bei der die Mannschaft als "Comeback-Könige" bezeichnet wurde.
Doch der Auftakt ist misslungen: Im Eröffnungsspiel in Rom verloren die Türken gegen Italien mit 0:3. Günes' Team trifft nun am Mittwoch auf Wales und vier Tage später, am 20. Juni, in Baku auf die Schweiz.
"Heimspiele" in Baku
Die Spiele in der aserbaidschanischen Hauptstadt sehen die Türken quasi als ihre Heimspiele an. Das Team hofft auf leidenschaftliche Unterstützung durch den treuen Verbündeten Aserbaidschan, mit dem die Türkei enge Beziehungen pflegt.
Der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu lobte nach einem Freundschaftsspiel zwischen der Türkei und Aserbaidschan im Mai in Antalya die türkischen Fans dafür, dass sie auch während des Spiels für die aserbaidschanische Mannschaft anfeuerten und allen gezeigt hätten, "wem Karabach gehört". Der Hintergrund: Die Türkei hatte Aserbaidschan in seinem Krieg mit Armenien um das Territorium von Berg-Karabach im vergangenen Jahr militärische Hilfe geleistet. Rovnag Abdullayev, der Chef des Fußballverbands Aserbaidschans AFFA, sagte zu Reportern, er hoffe, dass die türkische Nationalmannschaft ihre Spiele in Baku gewönne - auch mit Hilfe der aserbaidschanischen Zuschauer auf den Tribünen.
Adaption: Stefan Nestler/Marko Langer