Warten in Berlin
11. August 2015Sarmad hat es geschafft. Draußen warten Hunderte, doch der junge Syrer sitzt endlich drinnen vor dem Tresen, an dem sein neuer Lebensabschnitt beginnen soll. Die Registrierung des neu angekommenen Flüchtlings wird eine mehrstündige Prozedur sein, an deren Ende er einen ersten Schlafplatz zugewiesen bekommt. Neben Sarmad sitzen ein Junge und ein Mädchen, sechs und acht Jahre alt. Nein, schüttelt er den Kopf und lächelt, die Kinder gehörten nicht zu ihm. Sarmach ist erst 21, doch die Verhältnisse seines zerrütteten Landes haben ihn äußerlich älter gemacht.
Er komme aus Aleppo, sagt er, wo er ein Medizinstudium begonnen habe. Fotografiert werden möchte er nicht. Seine Familie lebe in Zabadani, einer Kleinstadt 30 Kilometer nördlich, wo im Juli eine Schlacht zwischen Rebellen und der syrischen Armee tobte. Ihnen gehe es sehr schlecht, Bomben, Schüsse, sagt er im holprigen Englisch und macht eine Geste, als wolle er sich die Ohren zuhalten. Auf einen Zettel schreibt er seinen Fluchtweg: Libanon, Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich, Deutschland. Fast einen Monat war er unterwegs.
Todmüde aber entspannt
Und dann hat der junge Syrer, angekommen in Berlin, fünf Tage lang im Park vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) ausgeharrt, bis er endlich eine Nummer zugeteilt bekam und diese Nummer an diesem Dienstag dann auch endlich aufgerufen wurde. Das LaGeSo ist die einzige Anlaufstelle für Flüchtlinge in der deutschen Hauptstadt und derzeit völlig überfordert. Allein im Juli kamen über 4000 neue Asylbewerber, der Andrang hält an. Aber was ist das Chaos hier im Vergleich mit dem Bürgerkrieg in der Heimat, dem Sarmad entkommen ist. Er ist in Sicherheit, wird – von freiwilligen Helfern - einigermaßen mit Nahrung und Getränken versorgt, der Rest ist Warten. Ist man einmal drin im Amtsgebäude funktioniert auch die deutsche Bürokratie wieder, mit akustischen und optischen Signalen und jeder Menge Hinweistafeln. Auch ein Röntgen-Wagen steht vor der Tür - wegen der häufigen Tbc-Fälle unter den Flüchtlingen.
Sarmad ist todmüde, aber entspannt. Wie alle syrischen Kriegsflüchtlinge hat er beste Chancen, als Asylbewerber in Deutschland anerkannt zu werden. "Deutschland ist ein phantastisches Land" sagt er und wiederholt seinen Wunsch mehrmals: Studium, Studium, Studium. Er möchte sein Medizinstudium in Deutschland fortsetzen. Sarmad wird Deutsch lernen müssen.
Der Senat berät, die Helfer handeln
Vor der Berliner Anlaufstelle für Flüchtlinge hat sich auch an diesem Dienstag eine Menschentraube gebildet. Der Eingang liegt in der Sonne, 34 Grad werden erwartet – im Schatten -, doch wer nicht verpassen will, wenn seine Nummer aufgerufen wird oder wer überhaupt erst eine Nummer ergattern will, muss aushalten. Während der Senat der Hauptstadt im Roten Rathaus noch über die Bildung eines neuen "Koordinierungsstabes" berät, haben freiwillige Helfer längst die Initiative ergriffen. Die Berliner Wasserbetriebe haben eine Wasser-Bar aufgestellt, an der sich die Flüchtlinge versorgen können. Junge Frauen verteilen Obst und Eis. Der Verein "Moabit Hilft" hat im Internet einen Spendenaufruf gestartet und sammelt seit Tagen in einem kleinen Nebengebäude, was für die Flüchtlinge nützlich sein könnte: Von Nahrungsmitteln über Zahnbürsten, Duschgel, Babywindeln und Schlafsäcken bis hin zu Kinderwagen. Letztere sind besonders gefragt, denn viele Flüchtlinge tragen kleine Kinder auf ihren Armen. An einem Stand können Kinder malen und basteln. Die Atmosphäre scheint sich entspannt zu haben. Anders als am Freitag vergangener Woche. Da habe er eine volle Wasserflasche an den Kopf bekommen, berichtet einer der Sicherheitsleute in roten T-Shirts, die an den Eingängen der Gebäude postiert sind.
Am Wochenende hilft die Polizei
An jenem Tag drängte sich die Rekordzahl von rund 600 Asylsuchenden vor der Registrierungsstelle, es kam zu einer Rangelei, die Polizei musste anrücken. Von den Neuankömmlingen in Berlin stammt fast die Hälfte aus den Ländern des Westbalkans. Ihre Chance auf Anerkennung liegt bei unter einem Prozent, doch am Aufwand für die Registrierung ändert das nichts. Zusätzlicher Andrang entsteht, wenn bereits registrierte Flüchtlinge beispielsweise einen Krankenschein oder Fahrscheine für die U-Bahn benötigen. So rechne man täglich mit rund 1000 bis 1200 Menschen auf dem Gelände, sagt Silvia Kostner, die Pressesprecherin des Amtes.
Rund 80 Mitarbeiter sind mittlerweile für die Erstregistrierung zuständig. Viel zu wenig. Zwei Jahre lang drängte das Amt auf Personalverstärkung, doch nur wenige Stellen wurden bewilligt, trotz des ansteigenden Flüchtlingsstromes. Jetzt soll es auf einmal schnell gehen mit der Rekrutierung von Personal. Angestellte anderer Verwaltungen und selbst Pensionäre könnten künftig das Personal verstärken, heißt es aus dem Berliner Rathaus Doch auch die müssen erst eingewiesen werden.
Auf einem Schild ist zu lesen, dass das LaGeSo Sonnabend und Sonntag geschlossen hat und sich neu ankommende Flüchtlinge an Wochenenden an die nächstgelegene Polizeidienststelle wenden sollen. Die personell ebenfalls schlecht ausgestattete Polizei kann dann allerdings ihren eigentlichen Job vergessen: Flüchtlinge anmelden statt Streife fahren.
Besser scheint die Personallage bei den Dolmetschern: Rund 150 stehen bereit, um in 30 bis 40 Sprachen auszuhelfen. Die meisten haben Migrationshintergrund, ebenso wie die kräftigen jungen Männer vom Sicherheitsdienst.
Berlin rechnet mit 30 000 Flüchtlingen
Eines immerhin hat die Behörde nach heftiger öffentlicher Kritik organisiert: Diejenigen Flüchtlinge, die sich anmelden wollen und am Abend immer noch nicht an der Reihe waren, werden trotzdem in Bussen in provisorische Unterkünfte gebracht, damit sie nicht wie Obdachlose im Park übernachten müssen. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller berichtete auch von einem Berliner, der sich in einer neuen Notunterkunft erkundigt habe, wie viele Kinder dort untergebracht würden, und dann in einem Möbelgeschäft auf eigene Faust Kinderbetten gekauft habe. Neuerdings gibt es auch mobile Teams des Landesamtes, die in Notunterkünften in Berlin die Registrierung der Flüchtlinge vornehmen und den Flüchtlingen damit das Warten vor dem LaGeSo ersparen.
Mit über 30 000 Flüchtlingen rechnet die deutsche Hauptstadt bis Ende des Jahres. Die Nutzung leer stehender Immobilien wie des früheren Rathauses in Berlin-Wilmersdorf wird geprüft. Die hohen Standards, die in Deutschland normalerweise für Unterkünfte gelten, sollen notgedrungen gesenkt und weitere Wohncontainer aufgestellt werden. Immerhin will Berlin bisher nicht, wie andere deutsche Städte, Zeltlager für Asylbewerber errichten. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller sagte, ihm sei wichtig, dass die Menschen, die teilweise alles verloren hätten, nicht nur untergebracht würden. So soll jeder minderjährige Flüchtling einen Platz an einer Schule bekommen. Zudem sollen Asylbewerber bei der Jobsuche besser unterstützt werden.
Die Hauptstadt muss rund 5 Prozent aller Flüchtlinge aufnehmen, die in Deutschland ankommen. Im vergangenen Jahr erhielt nur jeder Vierte von ihnen letztlich eine Aufenthaltserlaubnis.