Für eine Niere nach Spanien
14. Februar 2019Vor einem Jahr ging es bei Thomas Müller wieder los: In seinen Füßen lagerte sich Wasser ein, der Blutdruck war viel zu hoch, es ging dem 52-Jährigen zunehmend schlechter. Die Niere, die Müller vor zehn Jahren transplantiert bekam, arbeitet nicht mehr richtig. Deswegen hat der Münchner einen Entschluss gefasst: In den nächsten Wochen wird er in Deutschland seine Zelte komplett abbrechen und nach Spanien, in die Nähe von Málaga, ziehen: "Ich habe da einfach größere Chancen auf eine Niere. Das System für Organspenden funktioniert dort besser, man wartet einfach nicht so lange wie in Deutschland."
Thomas Müller hat eine lange Leidensgeschichte hinter sich: Mit 16 Jahren entdeckt man bei ihm Diabetes. Seitdem spritzt sich Müller täglich Insulin. Bei Menschen mit der Zuckerkrankheit ist das Risiko hoch, dass die Nieren irgendwann nicht mehr funktionieren - Müller trifft es mit Ende 30. Er muss dreimal wöchentlich zur Dialyse und bekommt dann eine Niere und eine Bauchspeicheldrüse transplantiert. "Ich hatte das Glück, dass ich damals auf zwei Organe gewartet habe: Auf eine Niere und eine Bauchspeicheldrüse. Und auf der Warteliste für zwei Organe waren nicht so viele Leute wie auf der Liste für ein Organ."
Wer in Deutschland ein Organ braucht, muss lange warten
Spendernieren können, wenn es gut läuft, 20 Jahre funktionieren. Bei Thomas Müller sind es keine zehn Jahre.
Dann ein Hoffnungsschimmer: Seine Freundin erklärt sich bereit, ihm eine Niere zu spenden. Doch die Ärzte in der Klinik in München müssen dies ablehnen. "Meine Freundin hatte vor zwei Jahren ein kleines Karzinom. Zwar war sie nicht in der Chemotherapie, ist aber trotzdem bestrahlt worden und da kam sie dann nicht mehr für eine Nierenspende in Frage."
Würde Thomas Müller jetzt wieder mit der Dialyse in Deutschland beginnen, käme er erneut auf die Warteliste für die Organtransplantation - dort, wo aktuell schon 9400 Menschen stehen. Patienten, die eine neue Niere brauchen wie Müller - oder ein Herz, eine Leber oder auch eine neue Lunge. Für eine Spenderniere muss man in Deutschland sechs bis zehn Jahre warten.
Kommt die Widerspruchslösung?
Eine lange Zeit, die jemand wie Müller nicht hat. Das Problem: Gerade einmal 955 Menschen haben im vergangenen Jahr nach ihrem Tod ihre Organe für schwerkranke Patienten gespendet. Hierzulande gilt: Organe dürfen nur Menschen entnommen werden, die dem in ihrem Organspendeausweis explizit zugestimmt haben.
Jens Spahn will dies ändern. Der Bundesgesundheitsminister setzt sich für die Widerspruchslösung ein, die in fast allen europäischen Ländern schon längst Gesetz ist. Das bedeutet, dass jeder automatisch als Organspender gilt – außer man widerspricht. Als zusätzliche Hürde können die Angehörigen nach dem Tod noch die Organtransplantation ablehnen, Spahn wirbt also für die sogenannte doppelte Widerspruchslösung. Doch viele kritisieren dies als unzulässigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht, die Spende würde zur Abgabe, der tote Körper dürfe nicht Mittel zum Zweck sein.
Wird sogar der Europäische Gerichtshof eingeschaltet?
Wenn Susanne Reitmaier diese Argumentation der Gegner einer Widerspruchslösung hört, wird sie wütend. "Dann sollen die auch im umgekehrten Sinne sagen, sie wollen kein Organ annehmen, wenn sie eines benötigen!" Die selbständige Kosmetikerin hat den Kampf für mehr Organspenden zu ihrem Lebensziel gemacht und wirbt mit ihrem eingetragenen Verein "Gegen den Tod auf der Organ-Warteliste" für Unterstützung.
Die Wolfsburgerin macht mit Online-Petionen an den Bundestag Druck, spricht im Gesundheitsministerium vor und schreibt Politikern und Ärzten alle zwei Wochen eine Stellungnahme ihres Vereins. "Aufgeben ist nicht meine Sache, wir halten durch", sagt Reitmaier, die erst Ruhe geben will, wenn die Widerspruchslösung endlich Realität in Deutschland ist - zur Not mit einer Verfassungsklage beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg.
Thema Organspende hat in Deutschland keinen guten Ruf
Reitmaier treibt ihr persönliches Schicksal an: Als ihrer Tochter Simone vor vier Jahren die Nieren versagen, rettet ihr eine Spenderniere in Spanien das Leben. "Wenn Sie dringend ein gesundes Organ brauchen, müssen Sie nach Spanien, Österreich oder in die Niederlande gehen", moniert Susanne Reitmaier, "in Spanien erfahren Menschen, die Organe spenden, auch eine ganz besondere Anerkennung."
In Deutschland dagegen habe die Organspende einen miserablen Ruf. "Hier wird nie etwas Positives über Organspenden berichtet, es gibt immer nur irgendeinen Skandal. Die Deutschen denken immer, wenn sie ins Krankenhaus gehen, werden sie direkt ausgeschlachtet", sagt die 60-Jährige. Es sei sehr anstrengend, sich auch im persönlichen Umfeld immer wieder rechtfertigen zu müssen.
Einige Monate muss Susanne Reitmaier noch durchhalten. Mitte dieses Jahres will Bundesgesundheitsminister Spahn eine Entscheidung des Bundestages erzwingen. Thomas Müller wird die Debatte aus Spanien verfolgen - vielleicht dann schon mit einer neuen Niere.