Haben die Nationalstaaten ausgedient?
7. Januar 2020Die Volksrepublik China hat dem Westen doppelte Standards vorgeworfen: Einserseits kritisierten die Demokratien der freien Welt das kommunistische Reich der Mitte für die Zustände in Hongkong, auf der anderen Seite aber zeigten die gleichen Länder aber harte Kante gegenüber den Katalanen, die Unabhängigkeit von Spanien anstreben. Warum, so lautet die Frage aus Peking, paktieren die Europäer mit Spanien, aber nicht mit China? Beide wehren sich doch nur gegen Separatisten, die widerrechtlich aus dem Verbund der Nation ausscheiden wollen.
Eine Antwort darauf führt in eine Debatte, die wir gut kennen: Was macht eigentlich eine Nation aus? Die gemeinsame Sprache wird bei der Antwort angeführt, Geschichte, geographische Zugehörigkeit. Aus all dem leite sich das ab, was eine nationale Identität ausmache. Darüber hinaus muss aber meiner Meinung nach noch gefragt werden, wie man sich als Mitglied einer Nation fühlen kann. Gleich ob in China oder Spanien: Die Nation ist eine abstrakte Größe. Niemals wird ein Spanier alle anderen, die sich Spanier nennen, treffen und kennen lernen. Das gleiche gilt selbstredend für die Volksrepublik.
Gemeinsamer Glaube und Sprache der Kirche als Klammer
Das Zugehörigkeitsgefühl einer modernen Nation entstand, so beschreibt es Benedict Anderson hervorragend in seinem Buch "Imagined Communities", in dem Moment, da die alten Abstrakta, die Menschen zusammengehalten hatten, nicht mehr trugen: In der Glaubensspaltung ging die "imaginierte Gemeinschaft" aller Gläubigen verloren. Die "Christenheit” bestand zwar aus Franzosen, Deutschen, Polen und Italienern. Aber zusammengehalten durch die rituelle (und politische) Sprache des Lateinischen hatte diese Zusammengehörigkeit bis dahin auch einen praktischen Charakter.
Die Entdeckung neuer Welten in der europäischen Neuzeit legte den Grundstein für neue Gemeinschaften fernab der höfischen Gesellschaften, von denen aus "Entdecker" in die ganze Welt zogen. Hier wurde ganz säkular-administrativ, in den jeweiligen Landessprachen, eine Zugehörigkeit geschaffen, die sich seither selbst erhält, obwohl die Menschen auf beiden Seiten des Atlantik dieselben Sprachen - Englisch, Spanisch, Portugiesisch - sprechen, dieselbe Religion haben und dasselbe kulturelle und institutionelle Erbe teilen.
Der technologische Fortschritt des Buchdrucks machte all dies möglich. Durch die Bibelübersetzungen entstanden Nationalsprachen, die wiederum ein Gebiet umrissen, innerhalb dessen die gleichen gedruckten Bücher verkauft werden konnten. Dieser Exkurs ist deshalb relevant, weil wir auch heute wieder in einer Zeit leben, in der technologischer Wandel Zugehörigkeiten hinterfragt und neue "imagined communities” entstehen.
Die Debatte über die Relevanz des Nationalstaats wird ja lebhaft geführt. Alles, was wir mit den Stichworten Globalisierung und Digitalisierung beschreiben, hat den Eindruck erhärtet, dass der Nationalstaat, zumindest so wie er sich heute präsentiert, wenig zur weiteren Entwicklung beizutragen hat. Überstaatliche Gebilde wie die Europäische Union setzen auf dem Nationalstaat auf. Durch Harmonisierung werden Geltungsbereiche gleichen Rechts über ein Gebiet etabliert, das 27 Nationalstaaten umfasst. Gleichzeitig findet innerhalb der Staaten eine Regionalisierung statt.
Unabhängigkeit bei allen Rechten wirkt anachronistisch
Die Katalanen und die Basken haben in der Tat eine eigene Sprache und eine wechselvolle Geschichte mit dem Rest Spaniens. Da ihnen aber keine verfassungsgemäß zugesprochenen Rechte entzogen werden, wirkt der Ruf nach Unabhängigkeit in einer Welt, die sich gerade im Hinblick auf ihre "imaginierten Gemeinschaften" neu ordnet, anachronistisch und aus der Zeit gefallen. In China verhält es sich umgekehrt: Dort werden den Menschen in Hongkong gerade NICHT die garantierten und verbrieften Rechte zuerkannt. Erst das hat dazu geführt, dass sich heute etliche Menschen in der Sonderverwaltungszone als "Hongkonger" und nicht mehr als Chinesen bezeichnen. Die eigene Sprache und Kultur werden zum verbindenden Symbol gegen die Übermacht von außen. Übrigens mit demselben Effekt, wie er im europäischen Nationalstaat Gang und Gäbe ist: einem rassistischen Überlegenheitsgefühl gegenüber den anderen da draußen - im Falle Hongkongs der Festland-Chinesen.
Die Welt heute ist also in einer dauerhaften Spannung zwischen Gemeinschaften der Vergangenheit und denen der Zukunft. Der Nationalstaat ist Druck von oben und von unten ausgesetzt. Eine weitere Fragmentierung nationaler Identitäten, in dem Sinne, wie von Anderson beschrieben, wird wohl nicht ausbleiben. Zur selben Zeit wird jedoch darüber diskutiert, ob nicht eine neue internationale Institution geschaffen werden sollte, die alle demokratische Kräfte repräsentiert um damit ein Bollwerk gegen populistischen Illiberalismus zu errichten. Das nun anbrechende Jahrzehnt wird von dieser Debatte bestimmt werden.
Alexander Görlach ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hongkong.