Sprechverbote sind das Ende der Demokratie
Wenn man es nicht vermeiden kann und doch aufeinander trifft, erscheinen die Begegnungen wie jene der dritten Art. Die eine Seite wirft der anderen vor "fake news" zu verbreiten, worauf diese wiederum ihre Angreifer "cancelt", was man im Deutschen mit "stornieren" oder "annullieren" übersetzen kann.
"Fake News" rufen die, die eine linke Elite, Kosmopoliten und die Medien für einen Umbau der Gesellschaft verantwortlich machen wollen: Diesen Schlachtruf skandieren unter anderem die Anhänger von US-Präsident Donald Trump, wenn sie behaupten, dass die COVID-19 Pandemie ein Betrugsversuch der Demokraten und somit nicht echt, sondern "fake" sei.
Auf der Seite der so Geschmähten wiederum zieht man die Trennlinie zu den Anderen scharf. Man definiert Worte, ihre Bedeutung und die Kontexte, in denen sie gesprochen werden dürfen in einer rigorosen Weise, dass jeder Abweichler (und jede Abweichlerin) sogleich mit einem Bann belegt wird, der an die mittelalterliche Exkommunikation, die durch die Kirche ausgesprochen wurde, erinnert.
Über die "Lust des Cancelns"
Das musste im Jahr 2015 der britische Medizin-Nobelpreisträger Tim Hunt erfahren, dem ein Spruch gründlich missraten war: Er sagte, Wissenschaftlerinnen würden sich im Labor nur verlieben. Alles Entschuldigungen für diesen dummen Redebeitrag halfen nichts, er musste Ehrungen zurückgeben und verlor eine Honorar-Professur. Ein Fehltritt und schon waren Hunt und mit ihm sein Lebenswerk "gecancelt."
In einem solchen Klima gesellschaftlicher Anspannung verwundert es nicht, dass selbst in einem Land wie den USA, die für ihre weitreichende Verehrung der freien Rede bekannt sind, die Menschen keine Lust mehr auf diesen Streit haben. Eine Studie im Jahr 2018 hatte ergeben, dass man im republikanischen Lager der Sprechverbote, die man auferlegt bekommen sollte, müde ist und sie als Angriff auf die eigene Identität nicht mehr hinnehmen will. Im linken, liberalen Spektrum gaben die Menschen an, nicht mehr hinterherzukommen, die neuen, politisch korrekten Begriffe zu lernen und zu verwenden, die ihnen ihre Kollegen täglich servierten.
Kürzlich haben weltweit bekannte Intellektuelle wie der Autor Salman Rushdie oder der Linguist Noam Chomsky einen offenen Brief unterzeichnet, der das liberale Spektrum und seine Lust "am Canceln" scharf kritisiert. Dieses Schreiben war die Reaktion auf den Rücktritt einer konservativen Meinungs-Redakteurin bei der New York Times, Bari Weiss, die zwar ausdrücklich nach der Wahl von Donald Trump geholt worden war, um für das liberale Spektrum kontroverse Meinungen weiterhin im Blatt zu veröffentlichen, nach drei Jahren nun aber das Handtuch warf, weil sie eben genau das nicht umsetzen konnte.
Eine Gesellschaft, in der Sprechverbote herrschen und Angst die Zunge führt, wird am Ende keine Demokratie mehr sein. Doch wie kann man, in den USA, in Großbritannien, in Deutschland und anderenorts wieder zu einer konstruktiven Debatte zurückfinden?
Eine Rückkehr zu den Fakten
Zu allererst muss wieder neu frei gelegt werden, was Fakten sind. Seit der Antike unterscheiden wir zwischen "doxa", Meinung, und "episteme", "Wissen." Fakten, die Grundlage von Wissen, führen zu verschiedenen Meinungen. Eine Meinung hingegen führt nicht zu gesichertem Wissen. Aber empirische Fakten alleine lösen keine Probleme. Jede sozialwissenschaftliche Untersuchung, auch wenn sie noch so akkurat methodisch durchgeführt wird, endet mit der Frage, was das so Erhobene bedeutet.
Hier gab es immer verschiedene Ansätze und Blickwinkel - und muss es auch geben. Um diese anzuerkennen braucht es die gesunde Selbsteinschätzung, - unsere Vorfahren hätten es Demut genannt - dass man selbst nie alles wissen kann und deshalb auch den anderen Meinungen Gehör schenken muss.
Der Diskurs ist die Vermittlung zwischen den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten von Fakten. Und da Fakten keine Meinung sind, haben diese verschiedenen Deutungsmöglichkeiten Grenzen. Wer sich außerhalb dieser Grenzen bewegt, spielt nicht mehr nach den Regeln des Diskurses. Zwar hat jeder das Recht auf seine Meinung, aber daraus resultiert nicht automatisch, dass jede so geäußerte Meinung wahr wäre. Nicht der Mensch als Träger der Meinung verbürgt ihre Wahrheit, sondern die logische und sprachliche Kraft, mit der die Fakten präsentiert, gedeutet und eingeordnet werden.
In den vergangenen 15 Jahren sind überall in der demokratischen Welt Akteure auf den Plan getreten, die Schritt für Schritt die Grenzen zwischen legitimer Deutung einer Meinung und Bauchgefühl verschoben haben. Damit deren Etappensieg nicht in einen Triumph gipfelt, der zugleich das Ende der Demokratie wäre, müssen sich diejenigen guten Willens, im linken, im grünen, im liberalen und im konservativen Spektrum, gemeinsam in einem Kraftakt wieder der Fakten bemächtigen. Einmal der Hand der Populisten und Demagogen entrissen, kann wieder ein faires und konstruktives Ringen um den besten Weg für die demokratische Gesellschaft beginnen.
Alexander Görlach lebt in New York und ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hongkong.