Dokumentarfilm: neuer Phoenixsee statt altem Stahlwerk
21. August 2014"Keine Brauerei, kein Bier mehr, kein Stahl, kein Pütt (Ruhrpottslang: Zeche, Anm. d. Red.) mehr. Hier wird nur noch auf Freizeit gemacht", sinniert ein Rentner in einer Filmszene. Zusammen mit seinem Kumpel hat er am Infopoint des neuen Phoenixsees Halt gemacht. Skeptisch lässt er seinen Blick über das riesige Areal schweifen: Früher stand hier auf 100.000 Hektar ein riesiges Stahlwerk, 18.000 Arbeitsplätze sind mit dem Abriss verschwunden.
Geblieben war damals eine Industriebrache - unwirtlich wie eine Mondlandschaft. Phoenix-Ost gehörte ehemals zu den größten Stahlstandorten Europas. Die Hoesch AG war Hauptarbeitgeber in der Region. "Das Stahlwerk bestimmte das ganze Leben hier. Tag und Nacht", sagt einer der Arbeiter rückblickend im Film.
"So viele Millionäre haben wir hier nicht"
Fünf Jahre hat es gedauert bis die Vision der Stadtplaner vom sozialverträglichen Strukturwandel Realität geworden ist. Auf der größten Baustelle Europas wühlten sich mitten in der Ruhrgebietsstadt Dortmund mehr als 60 Bagger und Planierraupen zwei Jahre lang durch das Erdreich, begradigten, regulierten und legten das Fundament für ein künstlich angelegtes Gewässer: der Phoenixsee - größer als die Hamburger Binnenalster - entstand hier in einem gigantischen städtebaulichen Kraftakt.
Wo früher malocht wurde, lädt heute ein kleiner, überschaubarer Yachthafen und eine gepflegte Uferpromenade zum Bummeln ein, gesäumt von schicken Bürohäusern im Baukasten-Prinzip. Ein neues Quartier ist hier in Dortmund entstanden. Die weißen Bauhaus-Villen, von denen sich Immobilienmakler und Stadtplaner viel versprachen, stehen dicht an dicht und in dem Dokumentarfilm noch etwas verloren an den kahlen Uferhängen des künstlichen Sees.
Auch Graugänse und Kraniche haben sich am Rande der Baustelle ein Domizil gesucht. Doch die Idylle trügt: Die Dokumentarfilmer Ulrike Franke und Michael Loeken spüren in "Göttliche Lage - eine Stadt erfindet sich neu" mit sensibler Bildführung und in einfühlsamen Interviews auf, wie viel Konfliktpotential dieser städtebauliche Umbruch letztendlich hinterlassen hat - trotz aller Euphorie über den neuen Phoenixsee.
"Wir sind hier die Bronx"
Welten liegen zwischen den alteingesessenen Einwohnern des Dortmunder Arbeiterviertels Hörde und den zum Teil neureichen Hausbesitzern, die das "Lifestyle-Produkt Seequartier" nach Dortmund gelockt hat. "Das ist schon ein bisschen prekäres Publikum hier, besonders am Wochenende", mokiert sich einer der Neuzugezogenen.
Regisseurin Ulrike Franke lässt vor der Kamera alle Seiten zu Wort kommen, montiert das Gesehen und Gehörte wie ein Sittengemälde: Verzweiflung, Zweifel, Bitterkeit, aber auch Aufbruchsstimmung und Stolz schwingen in den sehr persönlichen Statements mit. Man meint, die Befragten hätten die Kamera von Michael Loeken völlig vergessen.
Jeder hat in diesem bewegenden Film gute Gründe, warum der Phoenixsee seine Welt ist oder vielmehr hätte werden sollen. Da gibt es den umtriebigen Makler, der von "Premium-Produkten" und "Top-Renditen für Kapitalanleger" schwärmt, während dem alteingesessenen Restaurantbesitzer wegen des Baulärms die Gäste wegbleiben. Am Schluß muss er aufgeben. Ebenso wie Kioskbesitzerin Anna, der nur die Hinterhof-Idylle als kleines Stück Heimat geblieben ist. Beiden hat der Phoenixsee kein Glück gebracht.
"Das Publikum ist etwas gewöhnungsbedürftig"
Der Film zeigt ungeschminkt, aber liebevoll, wie die Gewinner und Verlierer dieses Modernisierungsprozesses aussehen. "Gentrifizierung" heißt der abstrakte Begriff, hinter dem sich ganze Lebensdramen verbergen. Die beiden engagierten Filmemacher begleiten diese sozialen Umwälzungen seit vielen Jahren mit der Kamera. Inzwischen ist eine filmische Trilogie entstanden.
Der mit internationalen Preisen ausgezeichnete erste Kinofilm "Losers and Winners" dokumentierte 2006 den akribischen Abbau des stillgelegten Dortmunder Stahlwerks der Hoesch AG. Bis zur letzten Schraube wurde die Industrieanlage durch chinesische Arbeiter demontiert, verpackt und nach China transportiert. 1:1 wurde sie dort wieder aufgebaut, eine technische Meisterleistung.
Der zweite Teil "Arbeit.Heimat.Opel" erzählt, was es für junge Menschen bedeutet, mit ihrem Arbeitsplatz auch ihre innere Beheimatung zu verlieren. Die "Opel-Familie" war eine feste Solidargemeinschaft, die viele Krisen überstand. Als der Film gedreht wurde, stand die Werksschließung in Bochum noch auf der Kippe, Hoffnungen mischten sich mit Resignation und Trotz - ein starkes Stück Ruhrgebietsgeschichte.
Die Filmemacher Ulrike Franke und Michael Loeken bauen in ihren Filmen mit pointierten eindrucksvollen Momentaufnahmen ein Sozialpanorama - eine Art Sittengemälde unserer Zeit. Aber sie bewerten nichts, lassen jeden in seiner ihm eigenen Art vor der Kamera erzählen, lassen die Bilder für sich sprechen. Dafür sind sie 2016 für den Grimme-Preis in der Kategorie Information & Kultur nominiert.
Idylle mit Altlasten
Der wahre Held des Dokumentarfilms ist Stadtteilpolizist Joachim Wegner: ein echter Schupo, ein Schutzpolizist wie früher - der sich in einer filmszene persönlich darum kümmert, dass sich die Schulkinder nicht an einer eingeschlagenen Fensterscheibe verletzen. Mit unglaublicher Gelassenheit bleibt er seiner Kiez-Klientel in diesen sozialen Umbruchzeiten am Phoenixsee treu verbunden.
Die neureichen Hausbesitzer sieht Wegner skeptisch: "Das geht doch nachher nicht ums Zusammenleben. Hartz IV soll denen doch nicht in den Garten gucken“, kommentiert einer der Anwohner. Was sich dort am Seeufer städtebaulich zum schicken Neubauviertel umschichtet, ist nicht für jeden ein Gewinn, hält der Dokumentarfilm fest.
Im Oktober 2013, fünf Jahre nach Beginn der Bauarbeiten, ist es dann soweit: begleitet vom Händels Wasserballett wird der künstliche Phoenixsee vor staunendem Publikum geflutet. Für die Feierlichkeiten haben die Stadtoberen den US-Schauspieler Larry Hagmann ("Denver-Clan") eingeflogen - ein bisschen internationaler Glanz muss sein.
Voller Stolz betrachten die Protagonisten am Schluss des Dokumentarfilms die Seenlandschaft: "Wer will denn noch nach Hamburg, wenn du so was hast", kommentiert ein Rentner, gekleidet mit praktischer Allwetterjacke und kariertem Hut. Auch Bilderbuch-Polizist Wegner ist zufrieden. "Man arrangiert sich. Wie die Enten auch. Keine Angst vor dem Neuen."