Ganz oben auf der Agenda
15. August 2018Bestseller! Das T-Shirt „Moda Rapido Men“ des indischen Online-Kaufhauses Myntra gefällt den Kunden. Das Design mit großen Blockstreifen in oliv, weiß, blau und gelb stammt aber nicht von einem Modedesigner. Zwei Algorithmen, also eine klar definierte Abfolge von Anweisungen zur Steuerung eines Computerprogramms, haben sich das „ausgedacht“.
Ein Algorithmus entwickelt zufällige Bilder farbiger Kleidung, der andere vergleicht diese mit den vorhandenen Artikeln, bis ein Design entsteht, das zum Angebot passt, ohne eine reine Kopie zu sein. Algorithmen übernehmen kreative Arbeiten. Damit dringen sie als „Künstliche Intelligenz“ (KI) zu Aufgaben vor, die Medienschaffenden zunehmend Sorgen um Inhalte und Ausgestaltung ihrer künftigen Jobs bereiten. Dies betrifft journalistische Ressorts wie auch technische Produktionsbereiche. Unter der stets etwas zu bedrohlichen Überschrift „Roboterjournalismus“, die gern mit metallenen Maschinenhänden auf Tastaturen illustriert wird, diskutieren und analysieren Experten unterschiedlicher Fachrichtungen seit Jahren, ob Computer schon bald Journalistinnen und Journalisten ersetzen. Oder ob sie doch nur die Werkzeuge liefern, um lästige Arbeiten zu übernehmen – gern genannt: Börsendaten, Sportergebnisse, Geschäftsberichte, Wetter, Wahlergebnisse. Mehr Zeit für Recherche und das Erzählen guter Geschichten wäre der Effekt.
Tatsächlich begegnen wir bereits heute täglich computergenerierten Texten und zunehmend auch Videos mit sehr unterschiedlichem Informations- und Unterhaltungswert. Während die automatische Überführung strukturierter Informationen in ständig wiederholte Satzbausteine, zum Beispiel auf diversen Reiseportalen oder bei US-amerikanischen Sportergebnisdiensten, schnell ermüdet, überrascht die Qualität mancher Maschinentexte. Beispiel: das „Feinstaubradar“ der Stuttgarter Zeitung, für das Algorithmen des deutschen Marktführers AX Semantics genutzt werden. Prognosen reichen daher von „90 Prozent aller Nachrichten kommen in fünf Jahren von Roboterjournalisten“ (BBC 2017) bis zu „Guten, fantasievollen Journalismus wird auch in 50 Jahren kein Roboter produzieren“ (Journalistik-Professor Thomas Hestermann 2017).
Mit Blick auf die aktuellen Forschungsprojekte der DW ist der vermehrte Einsatz von KI in den nächsten Jahren vor allem in folgenden Bereichen zu erwarten: Sprachtechnologien (automatische Übersetzung, Transkription und Untertitelung), Semantik (automatische Generierung von Metadaten, Text- und Bilderkennung) und Personalisierung (Empfehlungen für Related Content und Ausspielwege, automatische Zusammenfassungen). Denn Algorithmen schreiben, schneiden und publizieren schneller als Journalisten. Und das inklusive Suchmaschinenoptimierung (SEO), Social-Media-Posts und Metadaten. Daher wird ihr Einsatz im Medienbereich zunächst insbesondere dort stark zunehmen, wo große Datenvolumina zu bewältigen sind, strukturierte Informationen vorliegen oder in Mengen produziert wird – etwa zu Großereignissen wie Wahlen oder bei Nachrichtenagenturen. Nicht von ungefähr hat Associated Press (AP) schon 2015 den ersten „News Automation Editor“ eingestellt.
„Algorithmen müssen transparent sein.“
Hier aber lauert ein weiteres KI-Medien-Szenario, das weit bedrohlicher scheint als die mögliche Veränderung journalistischer Aufgabenprofile: von Algorithmen massenhaft produzierte Inhalte, die andere KI-Instanzen, etwa Social-Media- oder Messenger-Bots, blitzschnell weiterverbreiten und damit wiederum ebenfalls KI-basierte Suchmaschinen und Social-Media-Feeds beeinflussen. Diese Inhalte gefährden den demokratischen Diskurs und die journalistische Berichterstattung weltweit.
„Algorithmen müssen transparent sein, und jeder muss die Möglichkeit haben zu erfahren, wie sie zustande kommen.“ Diese von Bundeskanzlerin Angela Merkel formulierte Forderung wurde auch auf dem GMF 2018 erhoben. Sie ist gerade im Medienbereich weiter dringlich, angesichts des scharfen globalen Wettbewerbs um die besten Algorithmen für künftige KI-Anwendungen aber kaum durchsetzbar. Immerhin will EU-Kommissarin Mariya Gabriel das Thema „ganz oben auf die europäische Agenda setzen“, wie sie in Bonn versprach.
Wilfried Runde, Leiter Forschungs- und Kooperationsprojekte