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Ballast abwerfen

Martin Winter Kommentarbild App PROVISORISVCH
Martin Winter
28. August 2015

Nach Jahren der Krise weiß die EU um die Konstruktionsfehler des Euro und der europäischen Außenpolitik. Es fehlt ihr aber die Kraft, sie nachhaltig zu beheben, meint Gastautor Martin Winter.

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EU-Fahne in Fetzen (Montage: Schumann)
Bild: picture-alliance/ZB/Montage DW

Die Europäische Union hat sechs schwere Jahre hinter sich. Die kommenden werden nicht leichter werden. Die Krise läutet zwar nicht das Ende der Idee eines friedlichen und partnerschaftlichen Europa ein, aber ganz gewiss das Ende so mancher europäischer Illusion. Die Jahre der Finanz- und Schuldenkrise waren lehrreich - und sie waren bitter. Lehrreich, weil sie die Mängel jener politischen Konstruktion offengelegt haben, die sich die Europäische Union nach dem Ende des Kalten Krieges im Überschwang des Gefühls gegeben hatte, unaufhaltsam auf dem Weg zu einer, die neue Welt maßgeblich bestimmenden Macht zu sein. Bitter waren die Jahre, weil sie die Erkenntnis mit sich brachten, dass den Mitgliedsländern der Union die Kraft fehlt, genau diese Mängel zu beheben.

Keines der beiden großen Vorhaben, die die EU nach außen stärken und nach innen zusammenschweißen sollten, hat sein Ziel erreicht. Im Gegenteil. Der Euro hat nicht mehr politische Integration geschaffen, sondern eine wachsende Desintegration. Vertrauen und Solidarität haben Misstrauen und alten Vorurteilen Platz gemacht. Und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bleibt weit hinter den Hoffnungen zurück, mit denen sie ins Leben gerufen wurde. Anstatt von Freunden und Partnern umgegeben zu sein, findet sich die EU - wie der britische Economist schrieb - in einem ring of fire wieder. Europa und Russland rüsten wieder gegeneinander auf. In der Ukraine herrscht Krieg. Der Kaukasus kommt nicht zur Ruhe. Die Kriege in Syrien und im Irak drohen den ganzen Mittleren Osten in den Abgrund zu stürzen. Aus dem arabischen Frühling ist ein Herbst der Gewalt geworden. Der "Islamische Staat" breitet sich aus und bedroht Europa.

Porträt Martin Winter (Foto: C. Hess)
Martin Winter, Journalist und PublizistBild: C. Hess

Geplatzte Illusion

Europa ist zu einem Pflegefall geworden. Der Euro muss von einer Notoperation zur nächsten gerettet werden. Wenn es außenpolitisch brenzlig wird, dann müssen wie früher die großen Länder ran. Und die handeln nach ihren jeweiligen deutschen, französischen oder britischen Interessen. Dazu liegt der EU die große Erweiterung um die ost- und südosteuropäischen Länder politisch und finanziell schwer im Magen. Und angesichts des Ansturms der Flüchtlinge ist jeder EU-Staat sich selbst immer noch der nächste. Die in den 1990er-Jahren gehegte Illusion ist geplatzt, dass eine gemeinsame Währung die politische Union bei Wirtschaft, Finanzen sowie der Außen- und Sicherheitspolitik unvermeidbar nach sich ziehen würde.

Die Krise legt nicht nur die Konstruktionsfehler der EU bloß, sondern sie zeigt auch, wie sie zu beheben wären. Doch hier beginnt das europäische Dilemma: Kein Mitgliedsstaat der EU ist bereit, für die Rettung der europäischen Großvorhaben die nationalstaatliche Souveränität über Wirtschaft, Soziales, Steuern und Finanzen sowie über die Sicherheitspolitik an eine europäische Zentrale abzugeben. Die europäische Einigung ist seit ihrem ersten Schritt 1951 sehr weit gekommen. Aber die Völker sind noch lange nicht an jener Schwelle angekommen, an der sie bereit wären, die Union souveräner Nationalstaaten durch eine europäische Föderation etwa nach dem Muster der Bundesrepublik Deutschland zu ersetzen.

Überlast abbauen

Die Unfähigkeit der Politik und der Völker, das europäisch Notwendige zu tun, ist keine Folge individuellen Versagens von Staats- und Regierungschefs. Sondern sie ist die Folge einer Selbstüberschätzung in den frühen 1990er-Jahren. Nach dem Triumph im Kalten Krieg über den Ostblock hat die europäische Politik sich übernommen. Sie glaubte tatsächlich, über Nacht aus der behäbigen und auf ihr inneres Wohlergehen konzentrierten EU eine große Macht machen zu können. Eine Macht, die sich nicht nur auf eine gemeinsame Währung und eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik stützt und die eine immer engere Union werden will, sondern die sich gleichzeitig auch territorial erheblich ausdehnt. Diese Politik hat die objektiven Probleme einer gemeinsamen Währung und einer gemeinsamen Außenpolitik genauso unterschätzt, wie die Widerstände unter den Europäern gegen ein Europa, das sich faktisch an die Stelle ihrer jeweiligen Nationalstaaten setzen will. Umfragen und Wahlen zeigen: Die Europäer mögen ihre Union durchaus. Sie ist angenehm, sie ist bequem und sie bringt Vorteile. Mehr Macht über ihr tägliches Leben aber wollen sie ihr nicht geben.

Dieses Dilemma zwischen ihren Ansprüchen und ihren realen Kräften muss nicht das Ende der Europäischen Union bedeuten - wenn sie denn nüchtern den richtigen Schluss aus der Krise zieht. Und der heißt: Überlast abbauen. Da der Euro sich nicht rückgängig machen lässt, muss alle Kraft darauf konzentriert werden, ihn so unter Kontrolle zu bringen, dass er nicht mehr zum existentiellen Risiko werden kann. Zugleich muss die EU bei anderen Themen wie der Außen- oder der Erweiterungspolitik realistischer werden. Denn in dieser Krise geht es vor allem darum, vom Rohbau Europa so viel zu sichern, dass nachfolgende Generationen etwas Solides haben, auf dem sich weiterbauen lässt.

Martin Winter hat von 1999 bis 2013 als EU-Korrespondent aus Brüssel berichtet - zunächst für die Frankfurter Rundschau, dann für die Süddeutsche Zeitung. In diesem Jahr ist sein Buch "Das Ende einer Illusion - Europa zwischen Anspruch, Wunsch und Wirklichkeit" (Edition Süddeutsche Zeitung) erschienen.