Wer hat eigentlich versagt?
Im Jahr 2013 veröffentlichte der australische Historiker Christopher Clark das Buch "Die Schlafwandler" - eine Darstellung, wie es zum Ersten Weltkrieg kam. Seine These: Europas Staats- und Regierungschefs hatten 1914 keine Ahnung, dass sie gerade dabei waren, einen furchtbaren und langwierigen Weltkrieg zu entfesseln.
Nie wieder wollen wir Schlafwandler sein - das war der Refrain vieler Reden über Europa in den vergangenen Jahren. Wir werden nicht in den Nationalismus schlafwandeln! Wir werden nicht in die Klimakatastrophe schlafwandeln! Der französische Präsident Emmanuel Macron hat es gesagt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es gesagt, und der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat es ebenfalls gesagt.
Eine Wiederholung von 1918
Und jetzt ist Europa dennoch in die Katastrophe einer Pandemie geschlafwandelt. Es geht nicht um eine Wiederholung des Geschehens von 1914, sondern um 1918: Das Jahr, als die Spanische Grippe ausbrach. Die letzte große Epidemie in Europa. Wir hatten sie längst vergessen.
Europa hat versagt. Ist das zu stark ausgedrückt? Hat nicht vor allem China die Gefahr anfangs verschleiert? Haben nicht Wissenschaftler der Berliner Charité bereits im Januar den ersten globalen Test für dieses Virus entwickelt? Gehen nicht einige Länder in Europa besser mit dem Problem um als andere?
Alles richtig - aber im März standen alle Regierungen in Europa vor einer haarsträubenden Entscheidung: Entweder würden viele Menschen sterben und die Gesundheitssysteme vermutlich zusammenbrechen, oder ein Großteil des öffentlichen Lebens würde schnell und radikal gestoppt und damit die Volkswirtschaft vieler Länder massiv beschädigt werden. Eine vorausschauende Regierung darf sich niemals sehenden Auges in eine Lage manövrieren, in der sie solche Entscheidungen treffen muss.
Die Lage war vermeidbar
Inzwischen lässt sich sagen: Die Lage war vermeidbar, jedenfalls in dieser Dimension. Mit viel weniger Vorlaufzeit haben Taiwan, Südkorea und Hongkong den Ausbruch unter Kontrolle gebracht, ohne große Teile ihres Wirtschaftslebens zu strangulieren.
COVID-19 war ein vorhersehbarer Notfall. Aber Europa hat geschlafen. Albert Camus beschreibt diese Haltung in "Die Pest": "Jeder weiß, dass die Pest in der Welt immer wieder auftritt, doch irgendwie fällt es uns schwer, daran zu glauben, wenn sie uns plötzlich aus heiterem Himmel auf den Kopf fällt."
Europas Regierungen waren nicht vorbereitet und haben nicht rechtzeitig gehandelt. Aber wir leben in Demokratien, und Regierungen reagieren nicht zuletzt auf das, was die Opposition, die Medien, Interessengruppen oder Bürgerinitiativen zum Thema machen. Niemand hat sich in der Vergangenheit ernsthaft um Pandemien gekümmert. Kein Politiker, der sich für eine bessere Vorsorge eingesetzt hätte, wäre dafür mit Stimmen belohnt worden. Wir alle haben versagt.
Lernen und besser werden
Was wir jetzt brauchen ist eine systematische Überprüfung dessen, was schief gelaufen ist - in jedem Mitgliedsland und auf EU-Ebene. Wir können natürlich so tun, als sei uns die Pandemie aus heiterem Himmel auf den Kopf gefallen. Aber dann werden wir nichts lernen und verbessern.
Sicherlich werden wir das nächste Mal besser vorbereitet sein. Aber es besteht jetzt die Gefahr, dass wir die nächsten Jahre damit verbringen, die gegenwärtige Schlacht zu schlagen. Dabei mag die nächste Bedrohung vielleicht eine ganz andere sein: Nicht 1918, sondern 1986 (ein nuklearer Unfall) oder 2001 (ein massiver Terroranschlag) könnte sich wiederholen. Oder es könnte tatsächlich 1914 sein - in der Form einer kriegerischen Verwicklung zwischen der NATO und Russland.
Krisen rufen häufig zwei sich widersprechende Reaktionen hervor: Einerseits den Wunsch, dass es nicht so schlimm ist und man schnell zur Normalität zurückkehren kann. Andererseits schlägt die Stunde der Utopien, die aber meistens folgenlos bleiben. In der Finanzkrise 2008 gab es viele hehre Absichtserklärungen über eine Neuausrichtung des Bankensystems. Wenig ist davon geblieben.
Neubewertung der größten Risiken für Europa
Was wir brauchen, solange der Schock noch wirkt, ist eine öffentlichkeitswirksame Neubewertung der größten Risiken unseres Kontinents. Ein solcher Prozess muss die gesellschaftliche Dimension einbeziehen, ohne die eine Demokratie keine nachhaltigen Veränderungen erzielen kann.
Der chinesische Außenminister hat erklärt: "Nur in China und nur unter der Führung von Präsident Xi gibt es so effektive Maßnahmen, um diese plötzliche und sich schnell ausbreitende Epidemie unter Kontrolle zu bringen." Solche propagandistischen Verrenkungen brauchen wir in der Demokratie nicht. Wir können anerkennen, dass wir zu Beginn der Corona-Krise unzureichend reagiert, vielleicht auch versagt haben. Und die Chance nutzen, es beim nächsten Mal besser zu machen.
Michael Meyer-Resende (@Meyer_Resende) ist der Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation Democracy Reporting International