Die Türkei ist schon längst kein Rechtsstaat mehr. Sie tut aber so, als ob sie einer wäre. Stattdessen herrscht Willkür. Die Willkür des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierung. Das hat uns das Urteil über Deniz Yücel wieder klar und deutlich gezeigt. Mit diesem Urteil zu zwei Jahren, neun Monaten und 22 Tagen Haft wurde seine journalistische Arbeit bestraft.
Jetzt gehört auch Deniz Yücel zu den Dutzenden von Journalisten, die wegen angeblicher Terrorpropaganda verurteilt wurden, und zu den insgesamt mehr als 30.000 Menschen in der Türkei, die sich wegen Beleidigung des Präsidenten vor Gericht verantworten mussten und müssen. Die Zahl der Personen, gegen die aus demselben Grund ermittelt wird, liegt über 100.000.
Der Fall Yücel ist eines der augenfälligsten Beispiele dafür, wie die Regierung Erdogan Menschen und Situationen innenpolitisch oder außenpolitisch instrumentalisiert, je nach Bedarf.
Eine fabrizierte Anklage
Deniz und ich trafen uns im Oktober 2016 in dem Nachrichtensender IMC TV. Da wussten wir noch nicht, wie massiv der Angriff auf die Meinungsfreiheit werden würde. Präsident Erdogan hatte den gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 als Gottesgeschenk bezeichnet - und gleich angefangen, alle kritischen Stimmen, vor allem in den Medien, zum Schweigen zu bringen. Unser Sender wurde an dem Tag endgültig geschlossen, mit dem Vorwurf, wir gefährdeten die Sicherheit des Staates. An dem Tag schrieb Deniz in der deutschen Tageszeitung "Die Welt" über uns - ein paar Monate später mussten wir türkische Journalisten über ihn berichten.
Im Februar 2017 lag gegen Deniz ein Haftbefehl vor, weil er sich online die gehackten E-Mails von Berat Albayrak angesehen hatte, dem Wirtschaftsminister und Schwiegersohn des Präsidenten. In denen ging es um dubiose Verbindungen zwischen Albayrak und türkischen Medienunternehmern. Im Polizeigewahrsam stellten die Ermittler ihm nur Fragen über diese E-Mails. Doch als ihn nach zwei Wochen der Staatsanwalt verhörte, hatte sich die Situation plötzlich radikal geändert. Die gehackten E-Mails interessierten nicht mehr - stattdessen kamen Fragen über seine Interviews und Artikel über die Kurden und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK.
Eine deutliche Botschaft an ausländische Journalisten
Der Regierung war aufgefallen, dass Deniz Yücel ein bedeutender und in Deutschland bekannter Journalist war, mit einem türkischen und einem deutschen Pass. Das Kalkül: Er könnte als politische Geisel genommen und dann ausgetauscht werden gegen Gülen-Anhänger, die Erdogan für den Putsch verantwortlich macht, und andere Dissidenten, die in Deutschland Zuflucht gesucht hatten. Erdogan bestätigte diese Strategie in einem Fernsehinterview: "Wenn jemand von ihnen (ein EU-Bürger oder ein Deutscher) in unseren Händen ist", sagte er, "werden wir ihn nicht ausliefern. Solange ich in diesem Amt bin - niemals." Er nannte Deniz Yücel "Agent-Terrorist" und behauptete, er pflege enge Kontakte zur PKK.
Präsident Erdogan ist immer noch im Amt. Deniz Yücel ist aber längst nicht mehr "in seinen Händen" - und Erdogan wird ihn auch nicht mehr bekommen. Die deutsche Regierung hat ihn im Februar 2018 freibekommen, Deniz ist in Deutschland. Für Erdogan bedeutete das ein 0:1. Dieses Urteil ist vielleicht ein Versuch, den Punktstand auszugleichen. Es sendet eine klare Botschaft an ausländische Medien und deren Vertreter in der Türkei: Journalismus in diesem Land kann immer als Verbrechen betrachtet werden, je nach Bedarf der Regierenden.
Banu Güven ist türkische Journalistin und Fernsehmoderatorin. Sie schreibt regelmäßig Kolumnen für DW Türkisch und produziert Videokolumnen für WDR Cosmo. Für ihren Einsatz für die Pressefreiheit in der Türkei erhielt sie 2017 den Nannen-Sonderpreis für außerordentliche journalistische Leistung.