Wann zeigt die EU Erdoğan Grenzen auf?
Das Urteil gegen Can Dündar war schon längst gefällt. Spielraum hatten die Richter wohl nur noch beim Strafmaß. Es lautet: 27 Jahre und sechs Monate wegen militärischer und politischer Spionage sowie Unterstützung einer terroristischen Organisation.
Schon vor sechs Jahren, als die türkische Regierung erste Vorwürfe gegen Can Dündar erhob, drohte Recep Tayyip Erdoğan (Artikelbild), damals noch Ministerpräsident: "So einfach lasse ich ihn nicht davonkommen."
Ein verhängnisvoller Zeitungsbericht
Grund war ein Zeitungsartikel, den Can Dündar als Chefredakteur der türkischen Tageszeitung "Cumhuriyet" veröffentlicht hatte. Darin berichtete er über eine verdeckte Waffenlieferung des türkischen Geheimdienstes MIT an dschihadistische Rebellen in Syrien.
Dündar belegte diese Vorwürfe mit mehreren Fotos und einem Video. Darauf sei zu sehen, wie die Gendarmerie und ein Staatsanwalt eine verdeckte Geheimdienstoperation stoppten, hieß es. Beide Seiten hätten die Waffen gezogen und erst nach einer gefährlichen Auseinandersetzung sei es dem Staatsanwalt gelungen, einen Blick auf die Ladung zu werfen. Unter Medikamenten habe er Mörser, Granaten, Raketen und Maschinengewehrmunition gefunden. Im Hintergrund hörte man die Stimme eines mutmaßlichen Geheimagenten: "Seid vorsichtig, das sind hochexplosive Waffen!"
Keine leeren Drohungen
Erdoğan tobte und drohte Dündar offen, er werde für den Bericht einen hohen Preis zahlen. Und genauso kam es.
Zuerst musste Dündar ins Gefängnis, kam aber drei Monate später durch ein Urteil des Verfassungsgerichts wieder frei. Es folgte ein schier endloser Prozess vor dem Gericht in Istanbul.
Während einer der Verhandlungen schoss ein Attentäter auf ihn, traf ihn aber nicht. Im Sommer 2016 dann fand Dündar Zuflucht in Deutschland. Seiner Frau Dilek hatte man den Pass entzogen. Erst drei Jahre später fand sie einen anderen Weg, die Türkei zu verlassen.
Vor knapp zwei Monaten nun wurde Dündars Vermögen in der Türkei beschlagnahmt, weil er sich der türkischen Justiz nicht stellen wollte: alles, was er von der Familie geerbt und durch 40 Jahre Arbeit verdient hatte, einschließlich der Wohnung, in der seine 79-jährige Mutter lebt.
Can Dündars Leidensgeschichte zeigt, was Journalisten in der Türkei droht, wenn sie ihren Beruf ausüben. Der Prozess gegen ihn war ein Schauprozess mit politisch vorgeschriebenem Ausgang. Um dem keine Legitimation zu geben, blieben sowohl der Angeklagte als auch seine Anwälte dem Prozess fern. "Wir wollten dieses Theater nicht mehr dulden und zuschauen, als ob alles rechtmäßig wäre", sagte mir Can Dündar am Telefon.
Böse Vorahnungen
Can und ich kennen uns seit mehr als zehn Jahren. Damals wurden wir beide von demselben Nachrichtensender entlassen - aus politischen Gründen. Bei meinem Abschied diskutierten wir über die möglichen Ergebnisse kommender Wahlen und fragten uns, wie schlimm alles noch werden könnte.
Damals rechnete Can nicht mit dem, was alles auf ihn zukommt. Und die türkischen Behörden rechneten nicht mit seiner Entschlossenheit als Journalist. Denn letztlich - stellt Can am Telefon fest - habe die Regierung sich nur selbst entlarvt: "Dieses Urteil stellt Berichterstattung mit terroristischer Tätigkeit gleich. Vor allem aber habe die ganze Welt - nicht zuletzt wegen des Aufsehen erregenden Prozesses gegen ihn - erst erfahren, was die türkischen Behörden nun offen als Staatsgeheimnis bezeichnen: "Dass die Türkei Waffen an Dschihadisten geliefert hat."
Zufrieden ist Can damit aber noch nicht. Er sei jetzt noch entschlossener und ambitionierter, mit Büchern und Dokumentarfilmen zu zeigen, wie korrupt das Erdoğan-Regime ist, sagt er.
Korrupte "neue Türkei"
In der "neuen Türkei" - so nennt Erdoğan die Zeit seiner Regierung - leiden nicht nur Journalisten wie Can Dündar, Politiker wie Selahattin Demirtaş und Menschrechtsförderer wie Osman Kavala unter Verfolgung, sondern alle, die ihren Dissens aussprechen. Und die ganze Welt schaut dabei zu. Denn die ganze Welt weiß längst Bescheid über die systematischen Menschenrechtsverletzungen in der "neuen Türkei".
Ich frage mich, ob die neue globale Sanktionsregelung der EU im Bereich der Menschenrechte auch Folgen für die Türkei haben könnte. Die Frage ist: Wie lange können die EU-Regierungen wegschauen und die Geschäfte mit der Türkei ihren gewohnten Gang gehen lassen, während Menschen dort immer weiter und immer mehr gequält werden? Wir Journalisten jedenfalls werden weiter berichten.
Die türkische Journalistin und Fernsehmoderatorin Banu Güven schreibt für verschiedene deutsche und türkische Medien. Seit 2018 lebt und arbeitet sie in Deutschland.