Wir brauchen einander
Erst hatte ein Gedicht des deutschen Satirikers Böhmermann den türkischen Präsidenten Erdogan erbost; dann löste eine Resolution des Bundestags zum Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 in der Türkei heftige Reaktionen aus, so wurde Abgeordneten des Bundestags der Zugang zu Bundeswehrsoldaten auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik verwehrt; dann warf die Türkei nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli Deutschland fehlende Empathie vor, und Erdogan griff die deutsche Justiz scharf an, weil sie nicht zuließ, dass er über eine Videoschaltung zu einer Massenkundgebung seiner Anhänger in Köln sprechen durfte.
Und nun das: Ankara empört sich über die Einstufung der Türkei als "zentraler Plattform für islamistische Bewegungen" durch die Bundesregierung. In der Sache ist die Aussage nicht neu, dass die Türkei zur Drehscheibe für die islamistische Muslimbruderschaft geworden ist, dass sie die als Terrororganisation eingestufte Hamas unterstützt und dass sie der Komplizenschaft mit dem "Islamischen Staat" verdächtigt wird. Doch zum ersten Mal hat es die Bundesregierung offen ausgesprochen.
So gereizt war der Ton zwischen Berlin und Ankara noch nie. Dabei brauchen die beiden Länder einander, wobei Deutschland mehr auf die Türkei angewiesen ist als umgekehrt. Denn die Türkei ist der Schwamm, der die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten aufsaugt; der Puffer, der ein Übergreifen des Kriegs auf Europa verhindert; das Transitland für Energie, das Europas Versorgung mit Öl und Gas weniger abhängig von Russland machen soll. Erdogan weiß um diese Trümpfe, und er mobilisiert die drei Millionen Türken in Deutschland für seine Interessen, was dem ohnehin unbeliebten Erdogan weitere Sympathien kostet.
Im Gegenzug verteufelt Erdogan Deutschland und zeigt, dass er andere Optionen hat: Russland als Partner statt Deutschland. Russland kann jedoch nicht das bieten, was deutsche Unternehmen, Wissenschaftler und Touristen der Türkei bringen.
Auch wenn sich die Beziehungen verschlechtert haben: Deutschland und die Türkei sind weiter aufeinander angewiesen. Beide Seiten sollten daher realpolitisch besonnen handeln.