Wird die Kontinental-EU geboren?
2020 wird die EU kleiner und die Politik in ihr härter werden. Die Briten dürften sich endgültig verabschieden. Und das hat Folgen für das Machtgefüge in der EU.
Eine langsame Abkehr von der deutsch-französischen Achse als entscheidendem Machtzentrum zeichnet sich ab und eine Rückkehr zu historischeren Strukturen. Dazu gehört die Herausbildung eines ostmitteleuropäischen Blocks dort, wo einst die Habsburger herrschten: die Visegrád-Gruppe von Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei sowie der mit ihnen immer enger verflochtenen anderen Länder der Region.
Wo ist Deutschlands Platz in der EU?
Deutschland muss sich der Frage stellen, wo sein Platz in Europa ist. Die künftige Gestalt der Union hängt von dieser Entscheidung ab. Deutsche Politiker tun oft so, als seien sie nicht die Lenker des Machtzentrums des Kontinents. Doch die anderen Länder wissen das genau. Das ist einer der Gründe, warum sich die Briten verabschieden: Sie spüren die deutsche Dominanz und wollen sich nicht in eine solche Struktur binden lassen.
2019 war ein Jahr immer häufigerer Reibereien zwischen Paris und Berlin: der Beginn eines Ringens um Dominanz in einer neuen, kontinentaleren EU. Auch die Franzosen spüren, dass Deutschland den Kontinent in Zukunft politisch klarer dominieren könnte als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg, und versuchen das abzuwehren. Mit Rezepten, die schon von de Gaulle, Mitterrand und anderen französischen Präsidenten angewendet worden sind: Deutschland binden in Strukturen, die keine eigenen Wege erlauben. Und in diesen Strukturen selbst möglichst viele Schlüsselpositionen besetzen. Macrons Ruf nach einer europäischen Armee war ein solcher Schritt. Frankreich als einzige Atommacht im Westen des Kontinents und als einziges Land mit dem klaren Willen, auch im Ausland militärisch zu intervenieren, würde diese Armee dominieren.
Deutschland sieht sich derweil im Osten vor einer neuen, alten Realität: Die Länder Mittelosteuropas, so wie früher das Habsburgerreich, bieten sich als Verbündete an. Die entscheidende Entwicklung der vergangenen Jahre im Osten war nicht der verbale Schlagabtausch mit Berlin zu den Themen Migration, Rechtsstaat und europäische Integration, sondern das Drängen der Ostmitteleuropäer, Deutschland möge sie als strategische Partner anerkennen. Und mit ihnen zusammen zu den Grundsätzen realistischer, pragmatischer Einfluss- und Interessenpolitik zurückzukehren, anstatt ständig Moral zu predigen. Diese Länder bieten sich an, um Deutschlands Macht in Europa zu mehren - wenn Deutschland ihnen dafür etwas bietet.
Drängen der Visegrád-Gruppe
Dieses Drängen vollzieht sich hinter den Kulissen bereits seit 2014/15. Die Zeichen mehren sich, dass man in Berlin diese Option zu erwägen beginnt. Außenminister Heiko Maas predigt zwar immer noch Moral, aber hinter dieser Fassade strebt er eine nüchterne "neue Ostpolitik" an. Er geht auf die Visegrád-Staaten zu. Auch ein Antrag der Liberalen im Bundestag forderte im Herbst eine institutionaliserte, strategische Kooperation mit diesen Staaten. Obwohl das formal chancenlos ist, weil die Liberalen ja in der Opposition sind, haben eine ganze Reihe von Politikern der Regierungsparteien signalisiert, dass dies absolut notwendig sei. Sie wollten versuchen, in den Parlamentsausschüssen möglichst viel von diesem Antrag zu übernehmen.
Deutschland muss sich nach dem Brexit Mittelosteuropa zuwenden - als Gegengewicht gegen Frankreich, aber auch um die Visegrád-Staaten einzubinden und fernzuhalten von den rechten Bewegungen in Italien und Frankreich. Das größte Hindernis dabei hat die deutsche Politik selbst aufgebaut: die Rechtsstaatsdebatte und die Artikel 7-Verfahren der EU gegen Polen und Ungarn. Wie beendet man solche Verfahren? Niemand weiß es. Die "Sünder" zu entlasten traut sich keiner - aus Angst, sich damit selbst Angriffen auszusetzen. Eine Verurteilung wird es aber auch nicht geben - sie würde Einstimmigkeit erfordern.
Hoffnung auf den neuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus
Die Lösung wäre der von der neuen EU-Kommission angedachte neue Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, der für alle Länder gelten würde. Das wäre eine Chance, die bestehenden Verfahren in den neuen Mechanismus zu überführen. Da müsste man dann sehr viel vorsichtiger vorgehen. Denn wie steht es etwa mit dem hochpolitischen französischen Verfassungsgericht und dessen Unabhängigkeit? Oder mit Österreichs traditionell korrupter Kungel-Politik? Oder mit der fragwürdigen Vergabepraxis bei EU-Geldern in Griechenland? Die Liste ist lang.
2020 könnte somit die Geburtsstunde einer Kontinental-EU werden, deren Politik wieder mehr an pragmatische Politik erinnern wird, als an die biblische Bergpredigt.
Boris Kálnoky, Jahrgang 1961, berichtet als Ungarn-Korrespondent mit Sitz in Budapest für die Tageszeitung "Die Welt" und andere deutschsprachige Medien.