Omikron: "Lieber Lockdown als 2G-Plus"
20. Januar 2022Die Ankündigung kam überraschend: Am 6. Januar teilte der durch TV-Auftritte bekannte deutsche Gastronom Tim Mälzer über ein Instagram-Video mit, sein Hamburger Restaurant für rund drei Wochen zu schließen. Mälzer begründete den Schritt mit den steigenden Infektionszahlen und der Aussicht darauf, dass die Corona-Auflagen für die Gastronomie von 2G auf 2G-Plus verschärft werden sollten.
2G, das bedeutet: geimpft und genesen. Mit dem Plus wird zusätzlich ein negativer Corona-Test gefordert. Nur dreifach Geimpfte sind davon ausgenommen. Im Februar, so Mälzer, werde er sein Restaurant wieder öffnen, "natürlich unter Berücksichtigung aller offiziellen und umsetzbaren 2G-Plus-Regeln".
Entsetzen und Empörung in der Gastronomie
Umsetzbare 2G-Plus-Regeln? Andere Gastronomen drücken ihre Kritik unverblümter aus. "Todesstoß für die Gastronomie", "Katastrophe", "Lieber Lockdown als 2G-Plus" - das waren nur einige Reaktionen auf den Beschluss der letzten Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) mit dem Bundeskanzler, die Auflagen in allen 16 Bundesländern zu verschärfen.
Wobei Bayern und Sachsen-Anhalt noch am Abend der Ministerpräsidentenkonferenz durchblicken ließen, dass sie es mit der Umsetzung des Beschlusses nicht eilig hätten und erst einmal prüfen würden, ob die Verschärfung wirklich nötig sei.
Einsame Tage hinter dem Tresen
Wer wissen will, was 2G-Plus für die Gastronomie bedeutet, muss sich dort umsehen, wo die verschärften Regeln schon Ende 2021 eingeführt wurden. Beispielsweise in Niedersachsen. Dort mussten sich zunächst sogar dreifach Geimpfte vor einem Restaurantbesuch testen lassen. "Daraufhin kam kein einziger Gast mehr", erinnert sich Robert Vogel, Inhaber des Café Esprit in Göttingen, einer niedersächsischen Universitätsstadt mit 134.000 Einwohnern.
Zwei Tage lang habe er allein in seinem Lokal gesessen und die Mitarbeiter nach Hause geschickt. "Nach 48 Stunden hieß es plötzlich, dreifach geimpfte Gäste seien von der Testpflicht ausgenommen", erzählt Vogel. Doch auch das habe die Situation nicht spürbar verbessert. "Die haben keine Ahnung von der Realität in der Gastronomie", schimpft der Gastwirt über die Politik. Die Leute würden sich nicht testen lassen, um einen Kaffee trinken zu können.
Nach massivem Protest änderte die Landesregierung Mitte Dezember erneut die Regeln. Nun durfte zwischen 2G-Plus mit Testpflicht für alle Geimpften und Genesenen und 2G bei einer Reduzierung der Sitzplätze auf 70 Prozent gewählt werden. "Es war das absolute Chaos", so Robert Vogel. "Ständig klingelte das Telefon und Gäste wollten wissen, welche Auflagen bei uns denn nun gelten würden." Der Wirt entschied sich für 2G.
"Die Gastronomie ist aus den Hinterköpfen verschwunden"
364 Tage im Jahr ist das Café Esprit geöffnet, von 9:00 Uhr morgens bis 2.00 Uhr nachts. "Bei uns gibt es das beste Frühstück in Göttingen", sagt Vogel stolz, während zwei Kellnerinnen Tabletts mit frischen Brötchen, Obst, Käse und Rührei durch das Lokal tragen. Im Hintergrund faucht die Espressomaschine, an diesem Morgen sind knapp die Hälfte der Tische im Lokal besetzt.
"Das ist schon viel und es bleibt nicht so", sagt Vogel und verzieht dabei leicht das Gesicht. "Mittags kommen noch ein paar Gäste zum Essen und ab 14.30 Uhr ist der Drops gelutscht." Abends seien die Restaurants in der Stadt weitgehend leer. "Die Gastronomie ist aus den Hinterköpfen der Menschen verschwunden", sagt er bedauernd. "Die Menschen leben in ständiger Anspannung und sie haben sich einfach auch daran gewöhnt, zu Hause zu essen."
Ein Drittel hat geschlossen, die anderen wählen 2G
Es liege auch an "dieser Menge an Verordnungen, Änderungen, Ergänzungen" der Auflagen, schimpft Olaf Feuerstein, der in Göttingen den Hotel- und Gaststättenverband leitet. "Da blickt doch keiner mehr durch." Von den mehr als 140 Gastronomie-Betrieben, die Feuerstein im Landkreis betreut, hat ein Drittel kapituliert und geschlossen.
Die restlichen Betriebe haben sich fast alle für 2G und damit gegen die Testpflicht entschieden und versuchen, damit zu überleben. "Im besten Fall ist es ein finanzielles Nullsummenspiel, ansonsten ein geschäftliches Minus", rechnet Feuerstein vor.
Finanzhilfen werden zurückgefordert
Das kann Robert Vogel bestätigen. Seine derzeitige Situation bezeichnet er als "wirtschaftlich desaströs". 25 bis 40 Prozent weniger Umsatz hat er je nach Jahreszeit und Infektionslage pro Monat. "Ein Beispiel: Im Dezember 2019 haben wir Geschenkgutscheine für einen Café-Besuch für rund 6000 Euro verkauft, im Dezember 2021 waren es 128 Euro." Seit Monaten lebt der 56-Jährige von seinen Rücklagen. "Meine Altersvorsorge habe ich inzwischen aufgebraucht."
Wer einen Umsatzrückgang von mehr als 30 Prozent nachweisen kann, hat Anspruch auf staatliche Finanzhilfen. Im Lockdown zwischen November 2020 und Mai 2021 haben viele Gastronomen die Hilfen in Anspruch genommen. Die ersten Hilfen seien ein "wahrer Geldregen" gewesen, sagt Vogel. Inzwischen werde aber penibel gegengerechnet und mehrfach seien die Berechnungsgrundlagen auch rückwirkend geändert worden. "Ich kenne Kollegen, die mussten alles zurückzahlen."
In Deutschland gelten unterschiedliche Regeln
Inzwischen hat sich Niedersachsen Bayern und Sachsen-Anhalt angeschlossen und will die Vereinbarung der Ministerpräsidentenkonferenz zu 2G-Plus in der Gastronomie ebenfalls vorerst nicht umsetzen. Mit der Absicht, die Existenznot nicht noch weiter zu verschärfen. Auch Thüringen schert aus und beschränkt die Verschärfung auf regionale Infektions-Hotspots.
In anderen Bundesländern ist 2G-Plus hingegen in Kraft. Wobei es Unterschiede zu beachten gilt. Der Berliner Gastwirt Vincenzo Berényi erzählt, er habe mehrfach mit dem Gesundheitsamt und dem Ordnungsamt telefoniert, um zu erfahren, ob zweifach Geimpfte, die kürzlich eine Corona-Infektion durchgemacht haben, dreifach Geimpften gleichgestellt und von der Testpflicht ausgenommen seien. Das gelte nämlich in Nordrhein-Westfalen. In Berlin, so musste er sich belehren lassen, gelte das nicht.
Bis zu 70 Prozent weniger Gäste
In der Hauptstadt hat sich die Corona-Virusvariante Omikron bereits so stark ausgebreitet, dass die Inzidenz, also die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern, deutlich über 1000 liegt. Vor diesem Hintergrund spricht Berényi von "nervig aber nötig", wenn er über 2G-Plus erzählt. "Wir werden uns damit anfreunden müssen."
Nach zweieinhalb Wochen Betriebsferien sind seine Kurpfalz-Weinstuben seit dem 18. Januar wieder geöffnet. Am ersten Abend lag die Auslastung bei 50 Prozent dessen, was vor der Pandemie im ohnehin umsatzschwachen Januar üblich ist. Die Reservierungen für die nächsten Tage liegen bislang bei 30 Prozent. "Das ist immerhin mehr, als ich befürchtet hatte", sagt Berényi mit gespieltem Humor.
Die Pandemie überleben - irgendwie
Er hofft, dass sich die Auslastung trotz 2G-Plus-Regel bei 50 Prozent einpegeln wird. "Auf der anderen Straßenseite unseres Restaurants gibt es zum Glück eine Apotheke, die Corona-Schnelltests anbietet und bis 20 Uhr geöffnet hat, da schicke ich die Gäste hin, die ohne Testnachweis kommen", erzählt der Wirt. Im Verlauf der Pandemie sei er "demütiger" geworden, freue sich heute schon, wenn ein Gast nur einen Kaffee und ein Dessert ordere.
Sein Lokal soll die Pandemie überleben, das hat sich Vincenzo Berényi fest vorgenommen. Für den Januar hat er finanzielle Unterstützung aus drei staatlichen Hilfsprogrammen beantragt, darunter einen Zuschuss in Höhe von 3000 Euro für den zusätzlichen Arbeitsaufwand wegen der 2G-Plus-Kontrollen. Außerdem besetzt er frei werdende Stellen nicht unbedingt nach. "Unser Spüler hat gekündigt, das mache ich jetzt selbst."
Ob und wann sich die Lage wieder normalisieren wird, darüber denkt der Wirt nicht mehr nach. Aber in einem ist er sich sicher: "Die 2G-Plus-Regeln werden uns bestimmt bis Ende Mai erhalten bleiben."