Gaza: Lernen zwischen Trümmern
22. September 2024Im Sommer 2023 scheint noch alles nach Plan zu laufen: Lana Haroun macht ihr Tawjihi, das palästinensische Abitur, und gehört zu den Besten ihres Jahrgangs. Kurz darauf schreibt sie sich für englische Übersetzung an der renommierten Al-Azhar-Universität in Gaza ein.
"Ich habe wirklich hart gearbeitet und erreicht, wovon ich geträumt habe. Ich war eine der besten in Palästina. Ich war so stolz", sagt Haroun in einer Sprachnachricht aus Gaza gegenüber der DW.
Doch dann bricht der Krieg aus, nachdem die islamistische Hamas, die von der EU, den USA und weiteren Ländern als Terrororganisation betrachtet wird, am 7. Oktober 2023 den Süden Israels angegriffen hatte. Dabei wurden nach israelischen Angaben rund 1200 Menschen getötet und 250 als Geiseln nach Gaza verschleppt. In Israels Vergeltungskrieg gegen den Gazastreifen wurden nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums von Gaza mehr als 41.000 Palästinenser getötet. Ein Großteil des Gazastreifens liegt mittlerweile in Trümmern. Auch Harouns Hoffnungen und Träume wurden zerstört - wie die vieler anderer Jugendlicher in Gaza.
Zerstörte Zukunftschancen
In den vergangenen elf Monaten wurden sie und ihre Familie von ihrem Haus im Zentrum des Gazastreifens inmitten schwerer Kämpfe erst nach Rafah und dann wieder zurück vertrieben. "Die Fakultät liegt nun in Trümmern - und damit auch meine Träume", sagt sie.
Mit ihren Bestnoten hätte Lana Haroun womöglich sogar im Ausland studieren können - eine Möglichkeit, die fast allen anderen Bewohnern des nahezu abgeriegelten Gebietes verwehrt war. "Ich habe mich aber für ein Studium an einer örtlichen Universität entschieden, um in der Nähe meiner Familie zu bleiben, denn für mich war das Gefühl von Sicherheit und Stabilität entscheidend für den Erfolg", sagt sie. "Dieses Gefühl ist nun völlig zerbrochen."
Die Zerstörung hat schwerwiegende Folgen für die Jugend im Gazastreifen. In diesem Landstrich lag das Durchschnittsalter im Jahr 2020 bei gerade einmal 18 Jahren; damit besitzt der Gazastreifen eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt. Vier von zehn Bewohnern sind 14 Jahre oder jünger.
Fast alle Schulen sind beschädigt
Anfang September hat in den meisten Ländern der Region offiziell das Schuljahr begonnen. Nicht so in Gaza.
Mindestens 45.000 Erstklässler werden nach UNICEF-Angaben in nächster Zeit nicht zur Schule gehen - genau wie 625.000 Kinder, die schon länger im schulpflichtigen Alter sind. Statt Lesen und Schreiben zu lernen, müssen viele Kinder nun mit anpacken, um das Nötigste zu beschaffen und ihre Familien zu unterstützen.
Laut Satellitenbildern und Analysen des Global Education Cluster, einer Forschungsgruppe von Hilfsorganisationen unter der Leitung von UNICEF und Save the Children, sind fast alle Schulen im Gazastreifen "in irgendeiner Form beschädigt", unter anderem durch direkten Beschuss. Mindestens 84 Prozent der Schulen müssen entweder vollständig wiederaufgebaut oder umfassend saniert werden, bevor der Unterricht dort wieder aufgenommen werden kann.
Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) hat die meisten seiner Schulen in Notunterkünfte umgewandelt. "Sie sind zu Orten der Verzweiflung, des Hungers, der Krankheit und des Todes geworden", schrieb UNRWA-Chef Philippe Lazzarini in der vergangenen Woche auf X. "Alle Kinder haben durch diesen brutalen Krieg ein zusätzliches Jahr ihrer Ausbildung verloren. Je länger die Kinder in den Trümmern eines verwüsteten Landes nicht zur Schule gehen, desto größer ist das Risiko, dass sie zu einer verlorenen Generation werden. Das ist ein Rezept für zukünftige Ressentiments und Extremismus."
Auch Bildungseinrichtungen im Visier
Allein im Juli wurden 21 Angriffe auf UNRWA-Schulen, die als Notunterkünfte dienen, registriert. Mindestens 70 Prozent aller UNRWA-Schulen wurden seit Kriegsbeginn angegriffen, so ein Bericht des Hilfswerks im September. Im Hochschulbereich sieht es nicht besser aus: Dem palästinensischen Bildungsministerium in Ramallah zufolge seien in Gaza bislang mehr als 30 Universitätsgebäude zerstört und 20 weitere schwer beschädigt worden.
Kritiker haben Israel vorgeworfen, gezielt Bildungseinrichtungen anzugreifen. Bereits im April schrieben Bildungsexperten der Vereinten Nationen in einer Stellungnahme: "Man kann sich die Frage stellen, ob es absichtliche Bemühungen gibt, das palästinensische Bildungssystem umfassend zu zerstören, eine Aktion, die als 'Scholastizid' bekannt ist", so die Experten. Sie fügten hinzu, dass die Angriffe "ein systematisches Muster von Gewalt darstellen, das darauf abzielt, die Grundlagen der palästinensischen Gesellschaft zu zerstören."
In einer Erklärung gegenüber der DW erklärten die israelischen Verteidigungskräfte (IDF), dass sie "ausschließlich auf der Grundlage militärischer Notwendigkeit und in strikter Übereinstimmung mit dem Völkerrecht" handeln. Israels Militär versuche zu vermeiden, dass Zivilisten zu Schaden kommen. "Es muss jedoch betont werden, dass die Hamas ihre militärischen Einrichtungen rechtswidrig in, unter und in der Nähe von dicht besiedelten zivilen Gebieten verankert und zynisch zivile Infrastrukturen für Terrorzwecke ausnutzt", heißt es in der Stellungnahme. "Insbesondere ist gut dokumentiert, dass die Hamas Schulen und UNRWA-Einrichtungen für ihre militärischen Aktivitäten nutzt, indem sie Kommandozentren dort beherbergt, Angriffe auf die israelische Armee von dort aus durchführt und Geiseln dort gefangen hält (...)". Die in Gaza regierende Hamas hat mehrfach bestritten, Kämpfer in zivilen Einrichtungen zu verstecken.
Das Trauma des Krieges hält an
Ein Ende des Konfliktes ist bislang nicht abzusehen. Klar ist jedoch: Die meisten Kinder und Jugendlichen in Gaza werden Experten zufolge noch auf Jahre hinaus psychologische und psychosoziale Unterstützung benötigen. Dies wirkt sich auch auf ihre Lernfähigkeit aus. Auch wenn einige Hilfsorganisationen und private Initiativen informelle Lernprogramme zur Unterstützung von Schulkindern initiiert haben, ersetzen diese nicht den regulären Unterricht. Für Studierende ist die Herausforderung nicht geringer.
Im Frühsommer begannen einige Universitäten im israelisch besetzten Westjordanland, virtuelle Vorlesungen anzubieten, damit Studenten in Gaza ihr Studium zumindest teilweise fortsetzen können. Andira Abdallah, Englischdozentin an der Universität Bir Zeit, meldete sich freiwillig für das Projekt. Im Sommer saß sie regelmäßig in ihrem Wohnzimmer in Ramallah und übte mit zwei Studenten aus Gaza virtuell englische Grammatik und das Lesen kurzer Texte.
"Diese anderthalb Stunden sind wahrscheinlich die einzige Gelegenheit für sie, über etwas anderes zu sprechen als über das reine Überleben", so Abdallah gegenüber der DW. Als Lektorin mache sie sich viele Gedanken, was ihre Studenten durchmachen. "Wir diskutieren aber nur über akademische Themen. Ich weiß, dass ich nichts tun kann, um ihnen zu helfen oder ihren Schmerz zu lindern."
Viele von ihnen wurden bereits mehrmals vertrieben, haben Angehörige und ihr Zuhause verloren, ihre Familien und Freunde sind über ganz Gaza verstreut. Nach Angaben der UNO hat der Krieg mindestens 1,9 der insgesamt 2,3 Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht.
Lernen inmitten der Zerstörung
Alle paar Minuten ist einer der Studierenden offline, die Internetverbindung nach Gaza, auch nur über Audio, ist äußerst instabil. Fatma steht zwischen Zelten in Chan Junis und erzählt per Videocall, dass sie Schwierigkeiten hat, einen Ort zu finden, an dem sie stabiles Internet hat. Auch das Aufladen ihres Akkus sei ein ständiges Problem. "Ich weiß nicht, wie ich beschreiben soll, was wir gerade durchmachen. Aber es ist sehr wichtig für mich, diesem Unterricht zu folgen," sagt sie. Wenn der Krieg vorbei ist, hofft sie, als Kosmetikerin oder in der Modebranche zu arbeiten. "Wir müssen nur daran glauben, dass wir es schaffen."
Abdallah Baraka, Informatikstudent aus Deir al-Balah in Zentralgaza sagt, es falle ihm oft schwer, sich zu konzentrieren. "Ich muss jeden Tag stundenlang schauen, wie ich Wasser und Lebensmittel finde. Und das letzte Mal, als ich eigentlich lernen wollte, gab es einen Evakuierungsbefehl für ein Gebiet, in dem ich Familie und Freunde habe. Aber da sie kein Internet haben und die Telefonverbindung so schlecht ist, kreisten meine Gedanken nur darum, bis ich sie erreichen konnte. Das macht einen einfach mental völlig fertig.”
Auch wenn die Welt um ihn in Trümmern liegt, will er sein Studium beenden. "Ich möchte einfach nur einen Job finden, am liebsten im Bereich der künstlichen Intelligenz. Ich will leben und mir eine Karriere aufbauen."