Gebrauchte Bücher für ein neues Leben
19. Juni 2019Der Anblick des 400 Quadratmeter großen Lagerhauses an einem Tag im Februar, mitten in der griechischen Hauptstadt Athen, verschlug Leonidas Koursoumis die Sprache. All dem Staub, dem Bauschutt und der vielen Arbeit, die noch vor ihm lag, zum Trotz sah der 70-jährige Grieche in dieser Halle seinen Traum wahr werden: Genau hier wollte er den ersten, ausschließlich von Obdachlosen geführten Secondhand-Buchladen eröffnen.
Die vergangenen sieben Jahre seien die härtesten seines Lebens gewesen, erzählt Leonidas. 2012 verlor er seinen Job in einem Verlag, für den er 17 Jahre lang gearbeitet hatte. Chancen auf eine neue Beschäftigung hatte er kaum. "Für jemanden in meinem Alter ist es extrem schwierig, einen Job zu finden."
Damals lebte der seit 25 Jahren geschiedene Mann allein in einer Wohnung in der Athener Innenstadt. Mit Botengängen verdiente er gelegentlich etwas Geld, das jedoch kaum zum Überleben reichte. Als die kleinen Aufträge ausblieben, zog Leonidas zunächst kostenlos bei einem Freund ein. Dann ging er an sein Erspartes, das reichte für eine billige Wohnung im Stadtteil Kypseli. Doch nach einigen Monaten hatte Leonidas keinen Cent mehr.
Als er die Miete nicht mehr zahlen konnte, setzte ihn der Vermieter vor die Tür. Was blieb, waren die Straßen Athens, durch die der ehemals gut situierte Mann nun Tag und Nacht wanderte. "Ich habe immer Aussicht nach einem ruhigen Schlafplatz gehalten. Viele Nächte habe ich in den Hauseingängen von Wohnhäusern geschlafen."
Je tiefer die Krise, desto mehr Obdachlose
Leonidas Geschichte ist kein Einzelfall - im Gegenteil. Mit Beginn der schweren wirtschaftlichen Rezession Ende 2009 stieg die Zahl der Obdachlosen in Griechenland rasant. In den vergangenen zehn Jahren verdoppelte sich die Arbeitslosenquote. Viele derer, die erst ihren Job und dann ihre Wohnung verloren, landeten auf der Straße.
"Anfangs waren unter den Obdachlosen etwa 70 Prozent Ausländer und 30 Prozent Griechen. Das hat sich in den vergangenen Jahren, vor allem nach 2015, drastisch geändert", sagt Eleni Katsouli, Präsidentin des Aufnahme- und Solidaritätszentrums der Athener Gemeinde (KYADA), das Menschen in Not hilft. "Zu Beginn einer Wirtschaftskrise ist oft noch nichts spürbar, weil die meisten Menschen erstmal von Ersparnissen leben. Doch diese Krise hat länger gedauert, als erwartet und die ersparten Gelder komplett verbraucht. Wir sind alle ärmer geworden."
Obwohl das Rettungsprogramm für Griechenland im August 2018 mit einem dritten und letzten Milliardenkredit offiziell für beendet erklärt wurde, hat sich sich das Land noch längst nicht von der schweren Krise erholt.
Allerdings sei die prekäre wirtschaftliche Situation nicht der einzige Grund für die enorme Zahl an Obdachlosen, sagt Eleni Katsouli. "Airbnb hat alles völlig zerstört", erzählt sie über den Wohnungsmarkt in der griechischen Hauptstadt. "Was soll jemand tun, der über ein Einkommen von 550 Euro im Monat verfügt, aber 400 Euro für eine Wohnung bezahlen soll? Soll er die Miete, die Rechnungen oder sein Essen bezahlen?"
Laut einem Bericht der Nichtregierungsorganisation FEANTSA, einem europäischen Netzwerk, das sich mit der Obdachlosigkeit in der EU befasst, hatten im Jahr 2017 etwa 15.000 Menschen in der griechischen Region Attika, in der auch Athen liegt, kein Zuhause.
Die Dunkelziffer dürfte allerdings höher liegen, da viele Obdachlose nie um Hilfe bitten. "Ich war zu stolz, um irgendjemanden wissen zu lassen, was ich durchgemacht habe", sagt Leonidas. "Ich habe mich geschämt und wurde depressiv. Ich war völlig isoliert."
Von Obdachlosen für Obdachlose
Während seiner endlosen Wanderungen durch die Straßen durchwühlte Leonidas meist Mülltonnen nach weggeworfenen Büchern. Seine Sammlungen verkaufte er den Secondhand-Buchhändlern auf Flohmärkten für ein paar Euro. Irgendwann kam ihm die Idee, einen eigenen Laden für gebrauchte Bücher zu eröffnen. Er sah darin eine Möglichkeit für sich und seine obdachlosen Freunde, ihren Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen.
An einem Wintermorgen im Januar beschloss Leonidas, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er hatte sich gerade in einem Lagerraum hinter dem Büro eines Freundes ein Zuhause eingerichtet. Über Facebook bat er um Bücherspenden für sein Vorhaben. Allein am ersten Tag teilten mehr als 900 Menschen seinen Aufruf in dem sozialen Netzwerk.
Griechische Medien, die die Geschichte aufgriffen und über Leonidas' Idee berichteten, traten schließlich eine Welle der Unterstützung los. Der Obdachlose bekam Pakete mit tausenden Büchern, gebrauchten und brandneuen.
"Wir haben Bücher aus dem ganzen Land erhalten. Im Moment haben wir etwa 50.000 Werke im Angebot", erzählt Leonidas stolz. Sein Vorhaben wurde nicht nur mit Büchern, sondern auch mit Geld unterstützt. Ein anonymer Spender sorgte so für eine - zumindest vorübergehende - Unterkunft für Leonidas' Bücherbasar. "Das Geld, das wir bekommen haben, reicht, um die Miete eines Hauses für sechs Monate zu bezahlen."
Der 70-Jährige ist noch längst nicht am Ende seiner Träume. Er ist zuversichtlich, dass er und seine Freunde sich ihr früheres Leben zurückerobern können. Im Stadtteil Tavros hat er ein Gebäude gefunden, in dem er ein Gemeindezentrum eröffnen möchte. Auch hier soll gelten: von Obdachlosen für Obdachlose. Der Buchladen soll ebenfalls mit umziehen.
Leonidas möchte möglichst vielen Menschen ohne Zuhause helfen. "Alles, was ich tue, mache ich für die Menschen, die ich auf der Straße kennen- und lieben gelernt habe. Es geht mir nicht darum, mich zu profilieren. Ich tue es für die anderen."