Geflüchtete: Bürokratie am Rande des Machbaren
24. März 2022Die Entscheidung zur Flucht fällt in einer Wohnung im vierten Stock am Rande von Kiew. Es ist der Vorabend des Krieges. Das Pärchen saß bereits auf gepackten Koffern. Noch in der Nacht verlassen Aljona und Denys die ukrainische Hauptstadt, fahren immer weiter Richtung Westen. Um vier Uhr früh ein Anruf von Denys Mutter: Sie ist noch in Kiew und hört die ersten Explosionen.
17 Tage später sitzen Aljona und Denys in der Messehalle 13 in Hannover an einer Biertischgarnitur. Denn Hannover ist jetzt ein Drehkreuz für Flüchtende aus der Ukraine. Am Messebahnhof Laatzen fahren täglich mehrere Züge mit Geflüchteten ein, die hier weiterverteilt werden sollen: Jeden Tag zwei Züge aus Frankfurt (Oder); dazu kommt dreimal pro Woche der Sonderzug der Deutschen Bahn aus Krakau. Hannover soll Berlin entlasten, bislang Hauptziel ukrainischer Geflüchteter. Ab dieser Woche kommt Cottbus als weiteres Drehkreuz dazu.
Abfertigung in 20 Minuten
Es ist 14:37, der Zug aus Frankfurt (Oder) rollt ein. 285 Menschen bekommen von den ersten Helfern eine FFP2-Maske, von den nächsten Helfern Wasser und ein Brötchen. An drei provisorischen Schaltern gibt die Bahn Tickets für die Weiterfahrt aus. Draußen auf dem Vorplatz verteilt Vodafone kostenlose Sim-Karten. 20 Minuten später hat sich der Messebahnhof wieder geleert.
Wer in Hannover ankommt, hat drei Möglichkeiten: Direkt mit dem Zug weiterreisen; sich in der Messehalle 13 ausruhen; oder mit dem Bus verteilt werden. Die Zugreise organisiert die Bahn; ausruhen kann man sich in den Feldbetten der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen; wer kein festes Ziel hat, wird vom Bundesamt für Güterverkehr mit Bussen verteilt.
Im Auftrag des Verkehrsministeriums hat das Amt in Köln schon am 5. März einen Krisenstab mit 30 Mitarbeitern eingerichtet. Die Bundesländer melden über Verbindungsleute des Innenministeriums ihre Aufnahmekapazitäten. Dann schickt das Bundesamt für Güterverkehr die Busse los. Allein in der vergangenen Woche haben 149 Busse Hannover verlassen.
Freiwillige statt staatlicher Strukturen
Aljona und Denys sind mit dem Bus aus Polen nach Hannover gekommen. Weil die 23-Jährigen noch nicht wissen, wohin sie als nächstes wollen, haben sie sich in Deutschland noch nicht bei den Behörden gemeldet. Ukrainer müssen das in der EU auch nicht. Sie können mit ihrem biometrischen Reisepass ohne Visum einreisen.
Seit Invasionsbeginn vor vier Wochen hat die Bundespolizei bis zum 23. März genau 238.932 Kriegsvertriebene aus der Ukraine festgestellt. Nach der Einreise können die Menschen hinreisen, wohin sie wollen. Das stellt den Staat vor Probleme. Hier kommen die Freiwilligen ins Spiel.
Krystyna Wierzbicka arbeitet eigentlich Vollzeit in einem Labor. Seit Kriegsausbruch füllt sie zusätzlich in Köln mit Flüchtenden Formulare aus und steht Schlange bei Behörden. Zum Beispiel vergangene Woche: Da wollte sie mit drei Frauen aus Lwiw beim Ausländeramt einen vorläufigen Aufenthaltstitel beantragen. Nachdem sie direkt nach ihrer Nachtschicht sechs Stunden beim Amt gewartet hatten, schloss dort aber zur Mittagszeit der Schalter. Die 54-Jährige kann nicht verstehen, dass in so einer Notsituation das Amt an seinen üblichen Öffnungszeiten festhält.
Krystyna Wierzbicka ist Teil des Vereins "Sei Stark e.V." in Köln, der sich für migrantische Frauen einsetzt. Den Verein hatte Emitis Pohl erst vor einem Monat gegründet. Nun koordiniert sie 15 Ehrenamtliche. "Sei Stark e.V." ist Teil der viel beschworenen Zivilgesellschaft, die Flüchtende aus der Ukraine auffängt, die Wohnungen vermittelt, Übersetzungen für Amtsdeutsch schafft, Termine begleitet. Den Freiwilligen fällt auch die Erklärung zu, wieso vergangene Woche noch Gesundheitskarten ausgestellt wurden, diese Woche aber nicht. Die Helfer greifen nach eigener Aussage auch immer wieder ins eigene Portemonnaie: Für Lebensmittel, weil Termine beim Sozialamt auch mal zwei Wochen dauern. Für Medikamente, weil eben die Gesundheitskarten nicht mehr ausgestellt werden.
Schulterklopfen von der Politik
"Ein Staat funktioniert, indem sich nicht nur staatliche Behörden, sondern auch die Zivilgesellschaft bei großen Themen engagiert. Das ist gut, das ist erfreulich", sagte Staatssekretär Wede Büchner vom Innenministerium vergangene Woche vor Journalisten.
Das politische Berlin lässt derzeit kaum eine Gelegenheit aus, den Kommunen und den Ehrenamtlichen zu danken. Innenministerin Nancy Faeser wird nicht müde zu betonen, es ginge darum "unbürokratisch zu helfen".
Emitis Pohl wird sauer, wenn sie so etwas hört. Die "Sei Stark e.V."- Gründerin bekommt Anrufe von Maklern, die leerstehende Wohnungen anbieten. Die Stadt aber habe die Miete nicht unbürokratisch übernehmen können. Hotels fragen bei ihr nach, wie und ob sie an öffentliches Geld kommen können, denn Pohl geht ans Telefon. "Die sollen in den Behörden mal menschlich denken, nicht verwaltungstechnisch," sagt die ehemalige Unternehmerin und ergänzt: "Unsere Spender schätzen unseren Verein, weil wir schnell handeln und unbürokratisch sind."
Zumindest in einer Hinsicht erweist sich dann auch das Sozialamt in Köln als unbürokratisch: Keine der drei Frauen aus Lwiw, die Krystyna Wierzbicka betreut, wurde nach ihrem Vermögen gefragt - dabei können Fliehende laut Gesetz nur Geld vom Staat bekommen, wenn sie weniger als 200 Euro Erspartes haben.
Wie vorbereitet ist der Staat?
Insgesamt haben nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR seit Kriegsbeginn rund 3,6 Millionen Menschen die Ukraine verlassen. Außenministerin Annalena Baerbock rechnet damit, dass sich ihre Zahl auf acht Millionen erhöhen könnte. "Im Moment ist es so, dass ungefähr ein Drittel der Vertriebenen in die EU geht und zwei Drittel in der Ukraine bleiben," sagt der Migrationsforscher Frank Düvell im DW-Gespräch. Auch er geht von steigenden Flüchtlingszahlen aus: "Die zentral-ukrainischen Regionen sind ja voll mit Binnenvertriebenen. Wenn die nun in der zweiten oder dritten Phase des Krieges angegriffen werden, müssen wir mit mindestens sieben Millionen weiteren Vertriebenen rechnen."
Die Politik versucht, sich auf dieses Szenario vorzubereiten. Noch ist vieles unklar. Zum Beispiel, wer für die Kosten aufkommt. Die Ministerpräsidentenkonferenz hatte sich vergangene Woche darauf geeinigt, bis zum 7. April in einer Arbeitsgruppe einen Vorschlag zu entwerfen. Denn die Anstrengungen sind massiv: Massenunterkünfte, Sozialleistungen und neue Registrierungszentren wie am ehemaligen Flughafen Tegel, wo die Bundeswehr mit 80 Soldatinnen und Soldaten unterstützt, sind das eine.
Mehrkosten bei der Bahn beispielsweise, die Überstunden und freiwillige Mehrarbeit leistet sowie private Unterbringung sind das andere. Etwa zwei Drittel aller Flüchtenden aus der Ukraine kommen laut Berlins Ministerpräsidentin Franziska Giffey derzeit privat unter. Über geplante Kostenübernahmen in diesem Bereich oder finanzielle Entlastung für Ehrenamtliche schweigen die zuständigen Bundesministerien.
Knackpunkt Umverteilung
Und zuletzt ist da die Umverteilung. Seit zwei Wochen soll in Deutschland nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel verteilt werden: Flüchtende können den Bundesländern entsprechend ihres Steueraufkommens und ihrer Bevölkerungszahl zugewiesen werden. Den langsam überforderten Bundesländern geht das aber nicht weit genug. Daher werden jetzt Rufe lauter, dass über einen europäischen Mechanismus zur Umverteilung nachgedacht werden müsse.
Erst Anfang März wurde erstmals die EU-Richtline zum vorübergehenden Schutz beschlossen. Die sichert - eigentlich - Flüchtenden Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union zu. Umverteilungen auf europäischer Ebene könnte es damit nur auf freiwilliger Basis geben.
Besonders betroffene Länder wie Polen schweigen bisher zur europäischen Umverteilung. Sie befürchten, dies würde am Ende eine gemeinsame EU-Migrationspolitik besiegeln.
Dorothee Bär, stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, verlangte am Mittwoch im Bundestag, Bundeskanzler Olaf Scholz müsse die Flüchtlingsaufnahme zur "Chefsache" machen. Unterstützung für diese Forderung kommt sogar vom Ampel-Koalitionspartner: NRW-Flüchtlingsminister Joachim Stamp, FDP, sagte im Deutschlandfunk, Kanzler Scholz solle zu einem nationalen Flüchtlingsgipfel einladen.
Derweil überlegt das Pärchen aus Kiew wie es weiter gehen könnte. Aljona und Denys können sich von ihrem Ersparten derzeit noch ein billiges Hostel leisten. Beide sehnen sich nach etwas mehr Privatsphäre, einem eigenen Bad, Aussicht auf mehr als zwei Paar Jeans.