Gegen die Unverbindlichkeit der Kunst
15. September 2002Okwui Enwezor, Kurator der elften Weltkunstausstellung documenta, hat der Kunstwelt und uns allen, eine Lektion erteilt. Mit einem radikalen Schnitt hat er aus dem künstlerischen Schaffen, der Kunst selbst und der Präsentation von Kunst alles Formalästhetische, alles unverbindlich Schöne herausgetrennt.
Was bleibt, ist nicht etwa ein lebloses Skelett, sondern eine virulente Substanz. Sie ist aggressiv, fordert uns auf, Stellung zu beziehen. Wenn die Welt nicht in Ordnung ist, teilt uns Enwezor mit, kann die Kunst auch nicht in Ordnung sein. Wenn die Gesellschaften versagen, ist Kunst kein schönes Ablenkungsmanöver, keine Dekoration unseres Alltags.
Der Mensch!
Ein Video-Clip vom endlosen Auf und Ab der rauschenden Meereswellen lädt nicht etwa zum erholsamen Badeurlaub. Wir wissen, das Wasser ist dreckig, ist verseucht. Ketten hässlicher Betonwohnblöcke laden nicht zum verweilen ein, sie sind unwirtliche Massenquartiere einer herzlosen Massengesellschaft.
Der Mensch! Wir sehen ihn auf der documenta nicht als Krönung der Schöpfung, nicht edel und gut. Er ist verantwortungsloser Politiker, willfähriger Soldat, mal Opfer, mal Täter, er zerstört, vergewaltigt und foltert, er mordet und lebt trotzdem einfach so dahin, entzieht sich der Verantwortung.
Eleganter Enwezor
Das alles wissen wir längst, und seien wir ehrlich - genau das wollen wir eigentlich nicht mit Kunst in Verbindung gebracht wissen. Kunst soll uns erfreuen, entzücken, verwundern auch und erhellen, manchmal vielleicht sogar erschrecken, höchstens jedoch ein wenig nachdenklich machen. Und, vergessen wir es nicht: Kunst ist schließlich auch eine käufliche Ware. Aber, will man Geld für einen Spiegel ausgeben, der die eigene Unvollkommenheit, der Sünden und Verwerflichkeit unserer Existenz zeigt?
Okwui Enwezor, der elegante, freundliche Ausstellungsmacher, hatte nicht vor, mit der documenta11 ein Trugbild über den Zustand der Welt zu zeigen. Keine schönen Bilder also. Durch seine Art, Kunst mit uns selbst in Beziehung zu setzen, fordert er auf, hinter die Kulissen zu blicken, Verantwortung dafür zu übernehmen, was sich vorne, auf der Bühne, abspielt.
Die documenta11, diese hochrangige Weltkunstschau, war die schwierigste in der fünfzigjährigen Geschichte, die anspruchsvollste, die politischste. Ihre brennende Aktualität zeigte sich kurz vor dem Abschluss, als sie geradezu eindringlich mit der Thematik der UNO-Weltkonferenz zur nachhaltigen Entwicklung in Johannesburg korrespondierte. Die "transnationale Ausstellung", die Weltschau mit gesellschaftspolitischem Anspruch geht nun zu Ende. Aber, wie soll es weitergehen? In fünf Jahren steht die zwölfte documenta ins Haus. Kann sie zurückgehen zu den schönen Bildern einer schönen Welt?