Deutschlands Strategie im Ukraine-Krieg
30. Mai 2022"Das ist brutale Aggression. Das ist Imperialismus. Und das werden wir niemals akzeptieren." Das hat Bundeskanzler Scholz vor wenigen Tagen in einem DW-Interview über Russlands Krieg in der Ukraine gesagt. International gehe es jetzt darum zu zeigen: "Es darf nie wieder den erfolgreichen Versuch geben, Grenzen gewaltsam zu verschieben."
Der Weg dahin führt nach dem Willen der Bundesregierung über immer härtere Sanktionen gegen Russland, eine möglichst schnelle Abnabelung von russischen Gas- und Öllieferungen sowie militärische und finanzielle Hilfe für die Ukraine.
Allerdings wird Scholz dabei im In- und Ausland als zögerlich wahrgenommen. Bei der Lieferung schwerer Waffen drängen in der Berliner Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP vor allem die beiden grünen Minister nach vorn, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock. Und Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die FDP-Vorsitzende des Bundestags-Verteidigungsausschusses, klagte Ende April im ZDF: "Nach wie vor muss man das Kanzleramt treiben."
Der Außenpolitikexperte Johannes Varwick von der Universität Halle beschreibt die Strategie der Bundesregierung als den Versuch, "im Geleitzug der Partner mitzuschwimmen". Beim Embargo gegen Russland und den Waffenlieferungen für die Ukraine "setzt sie zumindest öffentlich keine großen eigenen Akzente, sondern vollzieht meistens das eher zögerlich nach, was die Partner schon etwas früher gemacht haben."
Was will Deutschland wirklich?
Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Deutschland, geht den Kanzler seit Wochen in einer Weise an, wie es wohl noch nie ein Diplomat gegenüber einem deutschen Regierungschef getan hat. Am vergangenen Freitag sagte er der "Bild"-Zeitung: "Militärisch wird die Ukraine von Berlin schlicht und einfach im Stich gelassen."
Vor einigen Tagen hatte Melnyk im Redaktionsnetzwerk Deutschland den Verdacht geäußert, Scholz wolle in Wirklichkeit gar keine schweren Waffen liefern, sondern möglicherweise abwarten, "bis es zu einer Waffenruhe kommt. Dann ist der Druck von Deutschland weg und dann brauchen auch keine mutigen Entscheidungen mehr getroffen werden."
Auch das Telefonat am vergangenen Samstag zwischen Wladimir Putin, Olaf Scholz und Emmanuel Macron um einen möglichen Friedensschluss wird in manchen Hauptstädten durchaus skeptisch gesehen. Der Londoner "Daily Telegraph" kommentiert den Vermittlungsversuch an diesem Montag so: Es "besteht die Gefahr, dass Emmanuel Macron und Olaf Scholz den Gedanken der westlichen Solidarität untergraben, indem sie eigene Initiativen ergreifen. Unweigerlich drängt sich der Verdacht auf, dass sie diesen Konflikt zu ihrem eigenen Vorteil und nicht zum Vorteil der Ukraine beenden wollen."
Kiesewetter: Scholz "will nicht, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt"
Der Vorwurf, Scholz spiele auf Zeit, kommt auch von deutschen Politikern. Florian Hahn, CDU-Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Verteidigungsausschuss, sagte in einem Interview mit dem "Cicero": "Der Bundeskanzler will die Waffenlieferungen verschleppen." Der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter warf Scholz in der ARD-Sendung "Anne Will" sogar vor: "Ich befürchte, dass der Bundeskanzler nicht will, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt, gewinnt in dem Sinne, dass die russischen Truppen aus dem Land getrieben werden."
Dies dürfte viel Parteipolitik sein, anhand von Scholz' Äußerungen lässt sich der Verdacht jedenfalls nicht belegen. Der Kanzler hatte erst kürzlich gesagt: "Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen, die Ukraine muss bestehen." Allerdings verzögert sich die Lieferungen schwerer Waffen immer mehr. Bei den zugesagten Flugabwehrpanzern vom Typ Gepard, in Deutschland längst ausgemustert, fehlt zum Beispiel die Munition. Vergangene Woche gab das Verteidigungsministerium bekannt, die ersten 15 dieser Panzer würden im Juli geliefert, weitere 15 bis Ende August.
Der Bundeskanzler, so umreißt Johannes Varwick Scholz' Handeln, gehöre "zu den besonnenen Stimmen, die einerseits an der Solidarität mit der Ukraine keinen Zweifel lassen, anderseits aber - und zwar nicht aus Feigheit oder Unvermögen, sondern weil sie keine Kriegsbeteiligung wollen - bei Waffenlieferungen auch die Nebenwirkungen und Risiken zu bedenken scheinen und da nicht zu den Scharfmachern gehören."
Russische Söldner in Westafrika
Scholz hat unterdessen versucht, bei einem Besuch in mehreren Staaten Afrikas Verbündete seiner Strategie zu finden. Dazu gehört der Wunsch, in Zukunft Gas aus dem Senegal zu beziehen. Denn Deutschland sucht weltweit Alternativen zu russischem Erdgas.
In Mali bekommen auch deutsche Soldaten den militärischen Einfluss Russlands in Afrika zu spüren. Die Militärregierung dort pflegt enge Beziehungen zu Moskau und soll russische Söldner der Gruppe Wagner frei agieren lassen. Scholz nannte ihren Einfluss bei seinem Besuch in Westafrika "verheerend". Der Bundestag beschloss kürzlich, den Ausbildungseinsatz in Mali zu beenden. An der UN-Friedensmission Minusma wird sich die Bundeswehr allerdings weiter beteiligen. Und auch im Niger soll die Truppe bleiben. Das versprach Scholz bei einem Truppenbesuch.
Sanktionen belasten auch Unbeteiligte
Das größte Problem für Afrika durch den Ukraine-Krieg sind aber stark gestiegene Lebensmittel- und Treibstoffpreise. Was in Deutschland die Kaufkraft von Durchschnittsfamilien bereits deutlich schmälert, droht in afrikanischen Ländern zu einer Hungersnot zu werden. Im DW-Interview versprach Scholz zwar den betroffenen Ländern Wirtschaftshilfen. Subventionen, um solche Preissteigerungen weltweit aufzufangen, erteilte er jedoch eine Absage. "Aber wir müssen anfangen, das Gas- und Treibstoffangebot zu erhöhen. Wir versuchen, alle Öl- und Gasförderländer dazu zu bewegen, dass sie die Produktion erhöhen, das würde den Weltmarkt entlasten."
In Südafrika musste Scholz allerdings erfahren, dass seine Ukraine-Russland-Strategie nicht von allen geteilt wird. Schon kurz nach Kriegsbeginn hatten fünf Staaten gegen eine UN-Resolution gestimmt, die den russischen Einmarsch verurteilte. 35 Staaten enthielten sich, darunter 17 afrikanische Länder.
In einer Pressekonferenz mit Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa vergangene Woche nannte Scholz ein solches Abstimmungsverhalten "unannehmbar". Ramaphosa hob die negativen Folgen der Sanktionen hervor: "Selbst Länder, die Zuschauer oder nicht Teil des Konflikts sind, werden unter den Sanktionen leiden."
Praktisch kein Verhandlungsspielraum
Olaf Scholz appelliert im DW-Interview bei Wladimir Putin auch an russischen Eigennutz: "Der Krieg wird für sein Land niemals gut ausgehen." Durch die Sanktionen "wird die russische Wirtschaft um Jahrzehnte zurückgeworfen." Schon deswegen solle er den Krieg beenden.
Doch danach sieht es im Moment nicht aus. Russland setzt seine Offensive zumindest im Osten und Süden der Ukraine unvermindert fort. Auf der anderen Seite fordert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj inzwischen, dass Russland alle völkerrechtswidrig besetzten ukrainischen Gebiete aufgibt; dazu gehört auch die 2014 annektierte Krim. Das schließt Russland aus. Der Verhandlungsspielraum für einen Frieden scheint damit nach jetzigem Stand gleich null.
Und die Bundesregierung will Selenskyj offenbar zu nichts drängen. Eine Regierungssprecherin in Berlin sagte vergangene Woche, es sei allein die Entscheidung der Ukraine, unter welchen Bedingungen das Land Frieden schließen wolle.
Droht ein neues Afghanistan?
Johannes Varwick hielte es "für einen schweren Fehler, sich zu eng an die ukrainischen Ziele zu binden. Wir haben durchaus auch andere Interessen als die Ukraine, etwa die Vermeidung eines direkten Kriegs mit Russland, in den die Ukraine uns aus ihrer nachvollziehbaren Interessenslage ziehen möchte. Das sollten wir um jeden Preis vermeiden." Es solle kein Tabu sein, "Druck auch auf die Ukraine auszuüben, einer politischen Kompromisslösung mit Russland zuzustimmen (...), auch wenn das den Verlust eines Teils ihres Staatsgebietes bedeutet. Das ist einstweilen besser als eine Dauereskalation mit unkalkulierbarem Ausgang."
Sollten die ukrainischen Friedensbedingungen unrealistisch hoch sein und Russland weiterkämpfen, könnte der Ukraine ein langer Stellungs- und Abnutzungskrieg bevorstehen.
Und das könnte für Kiews Verbündete bedeuten, dass sie das Land noch lange mit Geld und Waffen unterstützen und den Geflüchteten helfen müssten. Dann droht möglicherweise eine Art neues Afghanistan: ein jahrelanges finanzielles, militärisches und humanitäres Engagement ohne absehbares Ende. Es fehlt offenbar ein Ausstiegsszenario, in Moskau genauso wie in Kiew und in Berlin.