Geliebt, gehasst, gefürchtet - Arundhati Roy
8. März 2010Arundhati Roy liebt drastische Vergleiche. "Das Bild von Indien als tolerante, liberale und gerechte Demokratie", sagt sie zum Beispiel, "ist eine der größten Public-Relations-Täuschungen des Jahrhunderts". Und sie zählt auf: "Militärische Besatzung in Kaschmir, Besatzungsmentalität in den östlichen indischen Stammesgebieten, Genozid der Muslime in Gujarat vor acht Jahren, blutige Pogrome gegen Sikhs vor 25 Jahren. Und bis heute keine Gerechtigkeit für die Opfer!" Die indische Schriftstellerin und politische Aktivistin Arundhati Roy bricht bewusst Tabus und legt sich mit den Mächtigen an.
Mit deutlichen Worten rügt sie darum auch die Wirtschaftspolitik der indischen Regierung. Wachstumsraten sind nicht mit Demokratie vereinbar, sagt sie strikt. Wirtschaftliches Wachstum bringt keinen Wohlstand, sagt Arundhati Roy, sondern das Gegenteil: Millionen Menschen werden von ihrem Grund und Boden verdrängt. Rohstoffe werden rücksichtslos ausgebeutet. Ökosysteme werden zerstört. Die Konsequenzen tragen immer die kleinen Leute: "Das System der Marktliberalisierung hat die Rechte der Arbeiter ausgehebelt und die Armen an den Rand des Überlebens gedrängt", heißt es in ihrem jüngsten Buch "Aus der Werkstatt der Demokratie". Arundhati Roy kritisiert konsequent Kapitalismus und Globalisierung in jeder Form: den Bau riesiger Staudämme, die Zerstörung der Umwelt, atomare Aufrüstung, Krieg und Terror. Dagegen setzt sie ihre ganze Prominenz, ihre einnehmende Persönlichkeit, ihr Können und ihre gesamte Kraft ein.
Drastische Worte
Dieser Kampfgeist hat sie zu einer der wichtigsten Sprecherinnen der internationalen globalisierungskritischen Bewegung gemacht. Ihre Stimme wird nicht nur in Indien gehört, sondern auch in den USA und Europa. Vielen westlichen Regierungen ist Roy darum längst ein Dorn im Auge. Denn spätestens seit dem Krieg in Afghanistan nutzt sie ihre Bekanntheit auch, um die Wirtschafts- und Militärpolitik der EU, der NATO, der USA und deren Verbündeten zu kritisieren. "Oft sind es gerade die demokratischen Nationen, die sich als Hüter der Moral darstellen und trotzdem Militärdiktaturen und totalitäre Regimes unterstützen und stärken", schreibt sie in einem Essay. "Die Kriege in Irak und Afghanistan, in denen hunderttausende Menschen starben und ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht worden sind, wurden im Namen der Demokratie geführt."
Das Establishment - nicht nur in Indien - hasst Roy für ihren Einsatz. Die 49-jährige nimmt es gelassen: "Ich genieße es, in die Schusslinie zu treten und das Feuer zu erwidern", ist ihr streitlustiges Motto. Gleichzeitig hat sie mit ihrem unermüdlichen Engagement gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung den Ungehörten eine Stimme gegeben. Dafür wird sie von Millionen Menschen in Indien respektiert und geliebt.
Querdenkerin jenseits jeder Konvention
Wie kann eine Frau in einer von Kastenwesen und Traditionen geprägten Gesellschaft es wagen, sich so kritisch und lautstark zu den großen Themen der Zeit zu äußern? Die Antwort gibt sie selbst in ihrem Debütroman "Der Gott der kleinen Dinge", mit dem sie 1997 schlagartig international berühmt wurde. Darin verarbeitete sie einen Teil ihrer eigenen Geschichte. Wie die Hauptfigur Rahel wurde auch Arundhati in dem kleinen südindischen Ort Ayemenem groß. Beide Mütter, die fiktive und die echte, wagten es, sich von ihrem Ehemann scheiden zu lassen und lebten als alleinerziehende Frauen außerhalb des sozialen Gefüges.
Arundhati wuchs jenseits von Kasten- oder Religionszugehörigkeit und jenseits der gesellschaftlichen Konventionen auf. Mit 16 ging sie nach Delhi, war auf sich allein gestellt und lernte, sich auf ihr eigenes Urteilsvermögen zu verlassen. Sie erkannte gesellschaftliche Realitäten wie die oft grausame Enge des Kastenwesens - und sie sprach es an. Auch das war ein Grund dafür, dass ihr erster Roman ein Welterfolg wurde. Noch im Erscheinungsjahr 1997 erhielt er den renommierten britischen Booker Preis. Ihr Verleger drängte sie, einen Nachfolgeroman zu schreiben - sie weigerte sich, weil sie ausschließlich für ihre politischen Anliegen kämpfen wollte. Diese innere Freiheit hat sie sich konsequent bewahrt: 2006 lehnte Arundhati Roy aus politischen Gründen den höchsten Literaturpreis Indiens ab. An die vom Staat finanzierte Sahitya-Akademie schrieb sie, sie könne die Auszeichnung nicht annehmen, denn ihre Abscheu gegen viele Aspekte der indischen Regierungspolitik sei einfach zu groß.
Autorin: Ana Lehmann
Redaktion: Esther Broders