Gemeinsam uneins
10. Juni 2014Es ist kein Zufall, dass sich gerade diese vier Regierungschefs treffen, wenn es um die künftige Europapolitik und um Spitzenpersonalien geht: Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel, der britische Premierminister David Cameron (links im Bild), der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte (rechts) und, als Gastgeber, der Schwede Fredrik Reinfeldt. Sie führen nicht nur konservative Regierungen an, sondern auch Länder im Norden der EU, die als wirtschaftlich stabil, haushaltspolitisch solide und reformorientiert gelten. Ihnen sind die Zahlungen an den Süden suspekt, sie wollen Europa nicht als "Transferunion", wie es oft abfällig heißt.
Und deshalb wollen alle vier auch europäische Institutionen und Personen an deren Spitze, die in ihrem Sinne handeln. Die EU soll nach ihrem Wunsch vor allem wettbewerbsfähig werden, statt Dauerabhängigkeiten zu befördern. Und sie soll sich insgesamt weniger in das tägliche Leben der Bürger einmischen. Das ist an Gemeinsamkeiten bereits sehr viel.
Pro und contra Integration
Doch da beginnen die Unterschiede. Ein David Cameron steht ungleich mehr unter dem Druck einer EU-skeptischen Öffentlichkeit als eine Angela Merkel - und wieder anders sieht es in Schweden und den Niederlanden aus. Daher stehen die vier auch sehr unterschiedlich zu Jean-Claude Juncker, der der neue EU-Kommissionspräsident werden will. Der Luxemburger ist zwar Christdemokrat und gehört daher zur gleichen politischen Grundströmung wie die Gipfelteilnehmer von Harpsund. Es geht aber eher um etwas anderes: Juncker ist seit Jahrzehnten Teil des Brüsseler Systems und Integrationist durch und durch.
Daran stoßen sich die vier Regierungschefs in unterschiedlichem Maße. Merkel kann mit dem Gedanken einer immer engeren Europäischen Union wohl noch am meisten anfangen. Sie hat sie auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise sogar geradezu als Bedingung einer gelingenden europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik gesehen, auch als Disziplinierungsinstrument gegen reformmüde Regierungen. Der Niederländer Rutte und der Schwede Reinfeldt sind da skeptischer; vor allem die Schweden waren nie sonderlich integrationsfreundlich und sind dem Euro nie beigetreten, obwohl sie es könnten. Und der Brite Cameron lehnt den Gedanken sogar rundweg ab. Er will sogar Kompetenzen von Brüssel in die Hauptstädte zurückverlagern und die EU von Grund auf umbauen. Gelingt das nicht, droht er mit einem Austritt seines Landes.
Wer hat das Sagen?
Es geht aber auch um die Frage, wer in Europa das Sagen hat. Und hier gehen die Meinungen der vier vielleicht am weitesten auseinander. Zwar hat auch Merkel von Anfang an die Wahl von europäischen Spitzenkandidaten misstrauisch betrachtet und zunächst gesagt, es könne keinen "Automatismus" vom Spitzenkandidaten der stärksten Partei zum Kommissionspräsidenten geben. Doch vor kurzem hat sie sich dann doch öffentlich zu Juncker bekannt. Damit hat sie indirekt dem Parlament die Initiative bei der Besetzung des Postens überlassen. Jetzt sitzt sie in der Zwickmühle. Denn Cameron hat Juncker nicht nur aus politischen Gründen kategorisch ausgeschlossen, sondern will auch das Vorrecht der Regierungen beibehalten: "Die demokratisch gewählten Regierungen in Europa sollten diejenigen sein, die entscheiden, wer die europäischen Institutionen anführen soll", sagte er in Schweden.
Irgendwo zwischen diesen beiden Positionen stehen Reinfeldt und Rutte. Die beiden lehnen Juncker nicht von vornherein ab, wollen aber ebenfalls, dass letztlich die Regierungen entscheiden. Reinfeldt gab Cameron ziemlich deutliche Schützenhilfe: "Wir Schweden sind dagegen, dass Parteien auf europäischer Ebene sogenannte Spitzenkandidaten küren." Auch Rutte wollte nichts mit der Idee zu tun haben: "Sie kommt nicht von uns. Es ist einfach zu früh, um über Namen zu sprechen."
Machtkampf zwischen den Institutionen
Erst einmal, so Rutte, "müssen wir über Inhalte sprechen", über "Reformen", wie Reinfeldt konkreter sagte. Dem stimmte auch Merkel in Harpsund zu: "Wie soll die Arbeit der europäischen Institutionen in den nächsten fünf Jahren aussehen?" Merkel kann sicher dem Gedanken der drei anderen Regierungschefs einiges abgewinnen, dass die EU-Mitgliedsstaaten zunächst festlegen, wie Europapolitik künftig aussehen soll, und dann überlegen, wer als Kommissionspräsident am besten dazu passt. Gesagt hat sie es aber nicht, wohl, um Streit zu vermeiden. Denn das würde schnurstracks in die Konfrontation mit dem Parlament führen. Das Parlament hat sich früh auf Juncker festgelegt und glaubt, ein Recht auf ihn als Kommissionschef zu haben.
Doch so klar ist das nicht geregelt. Denn auch wenn die Staats- und Regierungschefs seit dieser Wahl verpflichtet sind, das Wahlergebnis bei ihrem Personalvorschlag "zu berücksichtigen", wie es in den Verträgen heißt, bedeutet das nicht unbedingt, dass sie den Spitzenkandidaten der stärksten Partei, also Juncker, tatsächlich benennen. Wird es jemand anderer als Juncker, könnte sich wiederum das Parlament sperren und diese Person ablehnen. Dann stünde ein womöglich monatelanger Machtkampf zwischen den Institutionen bevor.
Paketlösung als Lösungspaket
Dazu kommt, dass nicht nur der nächste Kommissionspräsident gesucht wird, sondern auch der Ratspräsident, der Außenrepräsentant und der Parlamentspräsident. Neben parteipolitischen Erwägungen muss bei diesem Personalpaket normalerweise eine komplizierte Balance zwischen Nord und Süd, Ost und West, kleinen und großen Staaten und Männern und Frauen herauskommen. Das führt dann oft zu blassen Kompromisskandidaten, die den Regierungen kaum Paroli bieten und die EU auf der Weltbühne und nach innen auch kaum voranbringen können. Den Regierungen ist das meist nur allzu recht. So halten sie weiterhin die Zügel in der Hand.
Diese komplizierte Lage spielt den Regierungen in die Hände: Je länger die Suche nach der Paketlösung dauert, desto weniger deutlich sehen viele Bürger den Zusammenhang zwischen Europawahl und Kommissionspräsident. Der Vorwurf des Wählerbetrugs, den die Juncker-Befürworter und ein Großteil des Europaparlaments erheben, wenn die Regierungen einen anderen als Juncker vorschlagen, schwächt sich mit der Zeit ab. Vielleicht setzt sogar Merkel auf diesen Effekt, wenn sie zwar Juncker offiziell unterstützt, insgeheim aber weiß, dass er bei manchen Regierungschefs sehr schwer durchzusetzen ist. Zunächst jedenfalls eckt sie in jedem Fall an, entweder bei Cameron, den sie unter allen Umständen in der EU halten will, oder bei einem zunehmend selbstbewussten Parlament, von anderen Regierungen ganz zu schweigen.