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Eurowaisen in Osteuropa

Martin Nejezchleba3. Dezember 2013

Ihre Eltern kennen sie nur von Besuchen und Skype-Gesprächen: In Osteuropa leben Millionen Kinder, deren Eltern dauerhaft im Ausland arbeiten. Neue EU-Gesetze könnten die Situation der 'Eurowaisen' verbessern.

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Oksana Hemei vor dem Haus ihrer Familie im Dorf Gura Galbenei in der Republik Moldau am 01.10.2013 (Foto: Martin Nejezchleba)
Bild: DW/Martin Nejezchleba

Die Abschiede sind das Schlimmste für Oksana Hemei. Als sie drei Jahre alt war, gingen ihre Eltern zum ersten Mal fort aus der Republik Moldau. Nach drei Jahren kam ihre Mutter Jelena wieder, für wenige Monate. Als dann der Abschied kam, schickte sie ihre Tochter zur Großmutter. Auf halbem Weg kehrte die sechsjährige Oksana um. In der Einfahrt ihres Elternhauses traf sie ihre Mutter, schon mit den Koffern in der Hand.

Oksana, inzwischen 18 Jahre alt, mit blonden Haaren zu einem artigen Zopf geschnürt, spürt noch heute die Wut, die sie als kleines Mädchen empfand: "Ich war zu klein, um zu verstehen, dass meine Mutter nicht ging, weil sie es wollte oder gern tat." Oksanas Mutter arbeitet noch heute in Israel – sie kümmert sich dort um die Kinder einer anderen Familie.

Millionen Eurowaisen

Im Osten Europas werden viele Kinder wie Oksana groß - elternlos. Die internationale Presse hat ihnen das Etikett "Eurowaisen" verpasst. Studien belegen, dass in der Republik Moldau mehr als die Hälfte der Kinder zeitweise ohne Mutter oder Vater aufwächst. In EU-Mitgliedsstaaten gehen NGOs von 500.000 bis zu einer Million betroffener Kinder aus, in Rumänien, Bulgarien und Polen etwa. In der Ukraine spricht die Caritas von bis zu neun Millionen "Eurowaisen".

Oksana Hemei (Foto: Martin Nejezchleba)
Mit 13 beschloss Oksana, statt bei den Großeltern, allein im Haus ihrer Eltern zu wohnenBild: DW/Martin Nejezchleba

Die Familiengeschichten ähneln einander. Meist spielen sie sich in ländlichen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit ab. Das Geld, das Eltern dort verdienen reicht nicht, um der Familie das Nötigste zu bieten; von einer gesicherten Zukunft ganz zu Schweigen. Sie folgen dem Weg, den so viele Landsleute vor ihnen gegangen sind: Sie wandern aus, arbeiten als Erntehelfer, Bauarbeiter, Altenpflegerinnen oder Nannies im Ausland. Viele verschlägt es in EU-Staaten - oft sind sie dort illegal. Die Kinder bleiben zurück - mit einem Elternteil, mit den Großeltern, Bekannten oder alleine.

Oksana Hemei mit Adriana in der Schule (Foto: Martin Nejezchleba)
Adriana (re.) wuchs ohne Eltern auf, denn die arbeiteten in Korea. Nun lebt sie mit ihrem Vater, die Mutter hat eine Arbeit in Russland gefundenBild: DW/Martin Nejezchleba

Generation Trauma

Als das Klingeln der Schulglocke ertönt, kehrt schlagartig Ruhe ein auf dem Flur des Lyzeums "Hyperion" mit seinem polierten Steinboden. Für Oksana ist es die letzte Stunde an diesem Tag. Französischunterricht. Die 16 Abiturienten tragen Winterjacken. Auch wenn es hier schon kalt ist im Herbst - die Schule wird noch nicht beheizt.

Neben Oksana sitzen Diana und Adriana. Auch ihre Eltern gingen fort als sie noch kleine Kinder waren. Die Eltern von Adriana sind im Sommer aus Israel zurückgekehrt. Sie sind arbeitslos. Die Mutter des 18-jährigen Ion arbeitet seit acht Jahren in Italien. Die Eltern eines Mädchens mit pechschwarzen Haaren - auch sie heißt Adriana - arbeiteten lange Zeit in Korea, heute ist die Mutter in Russland. Adriana lässt die Schultern in ihrer schwarzen Lederjacke hängen. Im Dorf Gura Galbenei, im Süden des ärmsten Landes Europas, ist inzwischen eine ganze Generation mit einem Trauma groß geworden.

Oksana skypt mit ihrer Mutter (Foto: Martin Nejezchleba)
Am Wochenende skypt Oksana bis zu vier Stunden mit ihrer Mutter JelenaBild: DW/Martin Nejezchleba

Skype statt Umarmungen

Fragt man Experten nach den Auswirkungen dieses Familienmodells, fällt schnell das Wort soziale Katastrophe. "Es ist das Trauma eines Kindes, das seine Eltern verloren hat, während sie noch am Leben sind", sagt der Psychologe Ian Feldman. Er hat an einer Erhebung über die Folgen der Massenauswanderung aus Moldau mitgewirkt. "Eurowaisen" lernen, dass elterliche Liebe in regelmäßigen Abständen auf ein Konto überwiesen oder mit der Post verschickt wird: in Paketen voller Markenkleidung und Spielzeugen. Was ihnen fehlt ist die Nähe ihrer Eltern. Blecherne Stimmen und verschwommene Skype-Bilder sind ein schwacher Ersatz für Umarmungen.

"Den Kindern fehlt Zuneigung. Sie suchen sie bei anderen Erwachsenen und leider gibt es Menschen, die das ausnutzen", sagt Feldman. Einen Ratschlag, wo die Grenzen körperlicher Nähe liegen, haben viele "Eurowaisen" nie erhalten. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu zehn Prozent der moldauischen Waisenkinder sexuell missbraucht werden. Den Kindern fehlt es laut Soziologen zudem oft an medizinischer Versorgung, sie ernähren sich schlecht, sie leiden oft an Depressionen, sie haben Probleme in der Schule.

(Foto: Martin Nejezchleba) Aufgenommen in der Schule des Dorfes Gura Galbenei in der Republik Moldau am 01.10.2013
Eurowaisen: Für die Schüler im moldauischen Gura Galbenei nichts UngewöhnlichesBild: DW/Martin Nejezchleba

Rettungsanker EU?

Die Republik Moldau hat Ende November in Vilnius ein Assoziierungsabkommen mit der EU abgeschlossen. Nun hofft das kleine Land auf neue Impulse für die kränkelnde Wirtschaft und darauf, dass das Freihandelsabkommen und visafreies Reisen in die EU auch die Situation der "Eurowaisen" verbessert.

Im Nachbarland Rumänien ist der positive Effekt des EU-Beitritts umstritten. Uneingeschränkte Reisefreiheit und besserer Zugang zum Arbeitsmarkt haben eine neue Ausreisewelle vor allem nach Spanien und Italien ausgelöst. Victoria Nedelciuc, Soziologin und Migrationsexpertin der Soros-Sitftung in Bukarest, ist dennoch überzeugt: Die EU-Mitgliedschaft hat die Situation der "Eurowaisen" verbessert. "Rumänen können sich frei in der EU bewegen, sie besuchen ihre Kinder öfter, die Kosten für die Reise sind gesunken, weshalb auch die Kinder ihre Eltern im Ausland besuchen können", sagt Nedelciuc. Vielen Familien sei es dank Reisefreiheit gelungen, ihre Kinder ins Ausland nachzuholen.

(Foto: Martin Nejezchleba) Auf dem Weg in das Dorf Clisova in der Republik Moldau
Die Republik Moldau ist das ärmste Land Europas. Vor allem in ländlichen Gebieten gibt es kaum ArbeitBild: DW/Martin Nejezchleba

Familienträume

Dennoch, Europa könnte mehr für das Wohl der Kinder tun. Helfen würde etwa eine EU-weit einheitliche Anwendung der Brüsseler Richtlinie zur Familienzusammenführung. Laut Nedelciuc könnte so verhindert werden, dass Einwanderer oft vor dem Paragraphen-Dschungel kapitulieren müssen, wenn sie ihre Kinder aus Drittländern nachholen möchten. "Eine Harmonisierung der Familiengesetzgebung in der EU wäre ein erster Schritt", sagt Nedelciuc.

Die größte Hilfe für die Kinder in Osteuropa wäre aber, wenn es in der Heimat genügend Arbeit für die Eltern gäbe. Oksana hofft, dass ihre Mutter beim nächsten Besuch für immer in Gura Galbenei bleibt. Oksana selbst wird dann ausziehen und studieren. Vielleicht in der Hauptstadt Chisinau, vielleicht im Ausland. Sie träumt von Kanada und ihrer eigenen Familie, um die sie sich dort kümmern wird - eine Familie, wie sie Oksana selbst nie erlebt hat.