Grenzen der Genforschung
30. Juli 2008DW-WORLD:DE: Herr Professor Nordheim, gegenüber gentechnisch veränderten Lebensmitteln sind die Bürger in Europa sehr skeptisch. Sind diese Bedenken gerechtfertigt?
Alfred Nordheim: Die jetzige Diskussion erinnert mich sehr an die 1970er-Jahre, als die Molekularbiologie die Möglichkeiten der Genmanipulation geschaffen hatte. Damals wurden sehr strikte Gentechnik-Gesetze erlassen, die in den Folgejahren immer wieder gelockert wurden, weil sich die Befürchtungen als überzogen und unbegründet herausstellten. Die Vorbehalte gegen Nährstoffe, die heute aus genmanipulierten Pflanzen und Tieren gewonnen werden können, sind zwar grundsätzlich gerechtfertigt, aber sie sind überzogen. Es werden sich die genetisch veränderten Nährstoffe durchsetzen, die keine gesundheitlichen Risiken bergen. Jedes neu erstellte Lebensmittel wird genau getestet und überprüft, bevor es auf den Markt kommt. Die in Deutschland vorhandenen beziehungsweise vorgesehenen Regulationsmechanismen halte ich derzeit für ausreichend.
Vor 75 Jahren wurde vom NS-Regime ein Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses erlassen, auf dessen Grundlage mindestens 400.000 Menschen zwangssterilisiert und tausende ermordet wurden. Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik hat daraufhin kürzlich eine Stellungnahme zur Verantwortung ihres Fachs präsentiert. Kann das Thema Eugenik nun abgehakt werden oder besteht weiterhin die Gefahr, dass die Genetik zu menschenverachtenden Zwecken missbraucht wird?
Mit der Stellungnahme wurde noch einmal klargestellt, dass wir unsere Augen vor den historischen Ereignissen nicht verschließen und dass wir unsere Mitschuld und Verantwortung erkennen. Grundlagenforschung muss immer wachsam sein, speziell in der Genetik. Aber die Gefahr eugenisch orientierten Missbrauchs reduziert sich zunehmend, weil Eugenik - also die Auswahl von menschlichen Erbmerkmalen für nachfolgende Generationen - auf rassistischen Tendenzen beruht, die heute in der deutschen und internationalen Wertediskussion keinen Platz mehr haben.
Vor 30 Jahren ist mit künstlicher Befruchtung das erste Retortenbaby zur Welt gekommen. Wo sehen Sie in diesem Bereich die Grenzen?
Die Fragen der Reproduktionsmedizin, bei denen es um Erbkrankheiten der Nachkommen geht, sind private Fragen, die zwischen Eltern und Medizinern an humangenetischen Beratungsstellen geklärt werden müssen. In diese Diskussion möchte ich öffentlich ungern eintreten. Aber im Unterschied zu den staatlichen Programmen der 1920er und 1930er-Jahre, die erzwungen wurden, sind die Eingriffe heute ausschließlich eine Entscheidung des Individuums.
Sehen wir einmal von den Vorbehalten ab, die viele Menschen gegenüber der Genetik haben. In welchen Anwendungsbereichen wird sie denn erfolgreich eingesetzt?
Der Begriff Genetik wird leider oft nicht in seiner vollen Begriffsbreite verstanden. Die Genetik umfasst nicht nur die Fortpflanzung von Erbanlagen auf nachfolgende Generationen, sondern auch Zellteilungen in einem einzigen Körper und die Nutzung genetischer Informationen dieser Zellen. Wenn das verstanden wäre, würden sich auch die Vorbehalte gegenüber genetischen Veränderungen und der Stammzellenforschung reduzieren.
Im Jahre 2003 wurde das menschliche Genom mit seinen drei Milliarden Buchstaben komplett entschlüsselt, trotzdem befinden wir uns noch in den Kindertagen der Genomforschung. Da werden sich ganz neue Anwendungsmöglichkeiten im Bereich der Biomedizin eröffnen. Man wird beispielsweise die Genomsequenzen von Tumorzellen mit denen von gesunden Zellen statistisch vergleichen und damit neue Erkenntnisse für die Erklärung von Krebsursachen, wie auch für bessere Tumortherapie gewinnen können. So kann man herausfinden, warum individuelle Patienten auf manche Medikamente ansprechen oder nicht, und entsprechend eine Therapie individueller ausrichten.
In welche Richtung wird sich die Genforschung Ihrer Meinung nach entwickeln?
In den kommenden Jahren wird die Genomsequenzierung deutlich schneller und billiger werden, so dass in fünf oder zehn Jahren jedes Individuum für etwa 10.000 Euro sein Genom sequenzieren lassen kann - wenn dies denn gewünscht wird. Derartige Sequenzanalysen können hohen prognostischen Informationsgehalt tragen. Wichtig ist hier aber die Freiwilligkeit. Man muss als Individuum entscheiden können, was man selber wissen möchte und was der Arzt oder die Versicherung wissen soll und was nicht.
Kann dieses System der Freiwilligkeit denn funktionieren? Glauben Sie nicht, dass beispielsweise Versicherungsgesellschaften Wege finden würden, das System zu missbrauchen um an Informationen zu gelangen?
Das kann funktionieren, wenn wir gute und nachvollziehbare Regeln formulieren und auch gesetzlich festlegen. Natürlich kann es trotzdem Missbrauch geben. Aber wenn er erfolgt, dann wird er auch bestraft. Nur weil eine kleine Möglichkeit zum Missbrauch gegeben ist, dürfen nicht alle wünschenswerten Konsequenzen einer neuen Entwicklung verhindert werden.
Professor Alfred Nordheim ist seit 1997 Leiter der Abteilung für Molekularbiologie der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Seit 2005 ist er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Genetik (GfG). Beim 20. Internationalen Genetik Kongress in Berlin wurde er 2008 zum Präsidenten des Welt-Genetik-Verbandes (IGF) gewählt.