Geostrategische Folgen des Rückzugs aus Afghanistan
16. April 2021DW: Die USA und mit ihr die NATO ziehen sich zum 11. September aus Afghanistan zurück. Wo sehen Sie die Gründe für diese Entscheidung?
Markus Kaim: Es waren wohl zwei Faktoren ausschlaggebend. Erstens die frustrierende Ergebnislosigkeit des Einsatzes. Die hohen Kosten und das Engagement führten nur zu bescheidenen Erfolgen. Dieser Umstand hat auf die Dauer offenbar eine gewisse Hoffnungslosigkeit provoziert. Zu ihr gesellte sich dann zweitens eine ganz grundsätzliche Müdigkeit in den USA, sich weiterhin in derartigen Stabilisierungseinsätzen zu engagieren, ausgerichtet an einem Kosten-Nutzen-Kalkül, das nicht sonderlich ermutigend war.
Mit seiner Entscheidung zum Abzug aus Afghanistan reiht sich Joe Biden auf gewisse Weise ein in die Spur seines Amtsvorgängers Donald Trump.
Diese Müdigkeit ist in der Tat nicht nur ein Phänomen unter Republikanern, sondern auch unter Demokraten weit verbreitet. Erste Anzeichen konnte man schon bei Barack Obama vernehmen, etwa, als er erklärte, "Now is the time for nation building at home" - Zeit also, sich um die Pflege des eigenen Landes zu kümmern. Durch die prinzipielle Entscheidung Trumps, den Rückzug aus Afghanistan anzutreten, bot sich Präsident Biden dann eine Gelegenheit, die er nur noch zu ergreifen brauchte. So konnte er erklären, nach den Verhandlungen mit den Taliban konnte seine Regierung gar nicht mehr anders.
Gedankenspiele in Washington
Der endgültige Truppenabzug ist ein Einschnitt für Afghanistan, aber auch für die amerikanische Außenpolitik. Was sind die Folgen für beide Seiten?
Für Afghanistan dürfte es schwierig werden. Mit Terrorismus, Drogenhandel, politischer Instabilität, um nur einiges zu nennen, drohen dem Land viele Gefahren. Zwar ist Präsident Biden offenbar zu dem Schluss gekommen, die Zeit der großen Auslandseinsätze sei vorbei. Aber andererseits will die US-Regierung das Land ja nicht fallenlassen, sondern die afghanische Regierung weiterhin mit humanitärer Hilfe und Entwicklungshilfe unterstützen.
Ich denke, im Weißen Haus werden derzeit viele Gedankenspiele angestellt. Afghanistan bleibt weiterhin ein militärischer Partner der NATO. Denkbar wäre etwa, dass die USA weiterhin Drohnen und Spezialkräfte in Pakistan stationieren, die je nach Lage kurze, schnelle Einsätze in Afghanistan ausführen, um Terrorgruppen wie Al-Kaida oder den lokalen Ableger des "Islamischen Staates" zu bekämpfen.
Sehen Sie den Terrorismus als die größte Herausforderung mit Blick auf Afghanistan?
Er ist eine enorme Herausforderung. Allerdings gibt es daneben eine weitere, die allerdings ganz anderer, nämlich geostrategischer Art ist. Schaut man auf die Karte, sieht man, dass Afghanistan in gewisser Weise ein Vorhof Chinas ist. Es ist nicht auszuschließen, dass China aktiver als bislang wird, sobald die USA Afghanistan verlassen haben. Man denke etwa an die gewaltigen Infrastrukturprojekte, die Peking in vielen Teilen der Welt auflegt und sie so in seinen Einflussbereich zieht. Denken Sie etwa an Teile Afrikas, an den westlichen Balkan, immer mehr auch an den Nahen Osten, etwa den Iran. So könnte Chinas geostrategischer Einfluss weiter wachsen. Im Westen muss man sich fragen, ob man das will. Und wenn man das nicht will, muss man sich fragen, was man dem entgegenhalten könnte.
Rolle Chinas im Blick
Also eine neue Epoche geostrategischer Rivalitäten?
Ja. Die westlichen Staaten haben aus meiner Sicht Anlass, ihren Rückzug aus Afghanistan im politischen Sinne zu zügeln. Es wäre gut, wenn er mit einer generellen Strategie für die Region einherginge. Tatsächlich gibt die NATO im Juni ein neues strategisches Konzept in Auftrag. Darin wird auch das Verhältnis zu China eine Rolle spielen - vor allem auch die Frage, was sie Chinas Einfluss entgegenzusetzen hat. So könnten US-Basen in der Region weiterhin ein wichtiges Element einer grundsätzlichen Präsenz sein. Es muss ja nicht die NATO als Ganzes vor Ort sein. Es reicht, wenn einzelne Verbündete anwesend sind.
Stehen wir also am Anfang einer neuen Epoche der Blockbildung?
Wir stehen vor einer Zeitenwende. Wir erleben derzeit die Rückkehr großer Mächte. Russland und China sind sehr große Mächte, die Türkei, der Iran und Saudi-Arabien zumindest recht einflussreiche Mächte. Die Versuche, einzelne Länder zu stabilisieren, wie es etwa der Afghanistan-Einsatz wollte, neigen offenbar ihrem Ende zu. An ihre Stelle tritt die Konzentration auf die Auseinandersetzung mit geopolitischen Rivalen. Bundeswehreinsätze wie in Afghanistan wird es erst einmal nicht mehr geben.
Das könnte auf eine zunehmende politische Unordnung unterhalb dieser Blöcke hinauslaufen.
Ja. Die Vereinten Nationen dürften es mit ihrem Konfliktmanagement künftig schwierig haben. Denken Sie etwa an die Einsätze im Kongo oder in Mali. Auch diesen Einsätzen war bislang ja kein sonderlicher Erfolg beschieden. In Zukunft könnte es den UN noch schwerer fallen, die notwendige Unterstützung für derartige Missionen zu erhalten. Wenn sich etwa die Bundeswehr, aber auch die Streitkräfte anderer Ländern bei größeren Auslandseinsätzen zurückhalten, dürfte das für die UN-Missionen erhebliche Auswirkungen haben. Das internationale Konfliktmanagement wird geschwächt.
Zum Schluss: Was erwarten Sie für die künftige Entwicklung Afghanistans? Könnte es gelingen, zumindest einen brüchigen Frieden zu bewahren?
Die afghanische Regierung stellt der Abzug vor einige Probleme. Unklar ist etwa, welche Folgen die NATO-Entscheidung für die Friedensverhandlungen mit den Taliban hat. So wird befürchtet, dass die Islamisten bereits kurz nach dem internationalen Abzug die Macht im Land übernehmen könnten. Die mühsamen Fortschritte, die das Land in den vergangenen Jahren gemacht hat, dürften dann hinfällig sein.
Markus Kaim ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik. Außerdem ist er Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich und Gastdozent der Hertie School of Governance in Berlin.