Gerechtigkeit nicht für alle: Indiens Justizsystem
7. Januar 2013Es sind Zahlen, die seit jeher für Aufsehen sorgen. Bereits im Jahr 2006 kam ein Gutachten zu dem Ergebnis, dass es 466 Jahre dauern würde, bis alle Fälle, die im Obersten Gericht der indischen Hauptstadt Neu Delhi lagern, abgearbeitet sein könnten. Noch im Jahr 2010 bezifferte der Oberste Richter Indiens K. G. Balakrishnan die Gesamtzahl dieser Fälle auf unglaubliche 27 Millionen. Zudem gibt es deutlich zu wenig Richter im Land.
Die Anwältin und Aktivistin Shweta Bharti aus Neu Delhi bezeichnet das indische Justizsystem als sehr ausgeklügelt und die indische Gesetzgebung eigentlich als umfassend. "Doch das Problem ist die Implementierung. Gerechtigkeit zu bekommen, kann Jahre dauern. Und es gibt viele Schlupflöcher." Diese würden es Straftätern erlauben, mit keiner oder nur einer geringen Strafe davonzukommen. Der Polizei seien oftmals die Hände gebunden, so Bharti.
Kamini Jaiswal, Anwältin am Supreme Court, dem Obersten Gerichtshof Indiens, geht sogar noch einen Schritt weiter. "Es gibt keine unabhängigen Ermittlungen in Indien. Vor mehr als sieben Jahren hat der indische Supreme Court ein Urteil erlassen, wonach die Polizeikräfte in Indien völlig unabhängig sein müssen. Es sind die Politiker, die nicht wollen, dass die Polizei unabhängig arbeitet. Wenn die Ermittlungen behindert werden, wie können wir dann davon ausgehen, dass Straftäter auch verurteilt werden?" Laut der "Vereinigung für demokratische Reformen", einer Nichtregierungsorganisation in Delhi, sind gegen ein Viertel der Politiker im indischen Parlament Verfahren anhängig: teilweise auch wegen Mord, Entführung und Raub.
Aufbau des Justizsystems
Das indische Justizsystem ist stark geprägt vom angelsächsischen Rechtsverständnis. An der Spitze der Judikative steht laut der indischen Verfassung von 1950 der Oberste Gerichtshof (Artikelbild), der "Supreme Court of India". Hauptaufgabe der 26 Richter, die der Präsident ernennt, ist es vor allem, Streitigkeiten zwischen den Bundesstaaten untereinander sowie zwischen den Bundesstaaten und der Regierung zu lösen. Urteile, die vom Obersten Gerichtshof in Neu Delhi gefällt werden, sind für alle Gerichte in Indien bindend.
Auf der nächsten Ebene stehen die High Courts, die obersten Gerichte der Bundesstaaten. Darüber hinaus gibt es auf Distriktebene Straf- und Zivilgerichte. Auf Dorfebene entscheiden auch Dorfräte, sogenannte Panchayats, bei kleineren Rechtsstreitigkeiten. Lediglich das Ehe- und Familienrecht ist unter Umständen der Religionszugehörigkeit zugeordnet. So gibt es zum Beispiel für die Muslime, die etwa 16 Prozent der indischen Bevölkerung ausmachen, ein eigenes Eherecht.
Frauen als Leidtragende
Die Aktivistin Shweta Bharti sieht vor allem die Frauen in Indien im Nachteil. Aufgrund ihres geringen Status in der Gesellschaft würden sie oft nach Hause geschickt, wenn sie Anzeige wegen Gewalt erstatten. Sind sie darüber hinaus noch ungebildet und arm, wird es für sie noch schwieriger, vor allem auf dem Land. Der Willkür von teils korrupten Polizeikräften hilflos ausgesetzt, entscheiden sich vor allem viele Vergewaltigungsopfer aus Angst vor sozialer Ausgrenzung zu schweigen. Ein Teufelskreis.
Derzeit kommt es in Indien nur bei etwa 20 Prozent aller Fälle zu einer Verurteilung. "Bei Vergewaltigungen zum Beispiel ist es vielerorts so, dass die Frau Beweise zusammentragen muss - für das, was ihr widerfahren ist. Wie sollen die Frauen das tun? Oft gibt es nun mal nicht genug Beweise. Wenn der Beschuldigte verschwinden und die Polizei den mutmaßlichen Täter nicht stellen kann, dann verlaufen die Ermittlungen im Sand", so Anwältin und Aktivistin Shweta Bharti aus Neu Delhi. Manchmal würden Frauen auch nach Hause geschickt. "Und wenn es um häusliche Gewalt geht, dann schweigen die Frauen lieber, weil sie ihre Familie nicht belasten wollen und Repressalien fürchten", sagt Bharti. Oftmals wüssten sie auch gar nicht über ihre Rechte Bescheid.
Dass Frauen auch vor der Justiz verletzlicher sind und benachteiligt werden, sei ein generelles Problem, sagt die Anwältin Kamini Jaiswal. "Es geht darum, dass Polizeikräfte und Richter für geschlechtsspezifische Fragen keinerlei Sensibilität besitzen. Aufgrund der vorherrschenden Wertvorstellungen werden Frauen nicht gleichberechtigt wahrgenommen. Die Menschen sind es nicht gewohnt, dass Frauen ihre eigenen vier Wände verlassen."
Bemühungen um Reform
Die indische Regierung hat bereits im Jahr 2004 in ganz Indien 1700 Schnellgerichte eingerichtet, um die große Anzahl von Verfahren abzuarbeiten. 2011 hat sie die Unterstützung für diese Gerichte eingestellt, nachdem in einer Reihe von Klagen Verfahrensfehler zutage gekommen waren. Der Fall der in einem Bus vergewaltigten jungen Studentin wird auch vor einem Schnellgericht in Neu Delhi verhandelt. Der Prozess - so hat es die Regierung versprochen - soll in 100 Tagen abgeschlossen sein. Allein die Anklageschrift gegen die fünf mutmaßlichen Täter - ein sechster ist noch minderjährig - ist 1000 Seiten lang. Die Familie des verstorbenen Opfers fordert für die Täter die Todesstrafe. Diese darf in Indien nur in besonders schwerwiegenden Fällen verhängt werden. "Beim Prozess gegen die mutmaßlichen Täter ist Fairness wichtiger als Schnelligkeit" betont Altamas Kabir, der Vorsitzende des indischen Supreme Courts.
Die indische Regierung hat zwei Untersuchungskommissionen eingerichtet: Die eine soll mögliche Fehler bei den Ermittlungen in diesem konkreten Fall aufklären, die andere soll Empfehlungen erarbeiten, wie Gewalt gegen Frauen reduziert und Polizei und Justiz reformiert werden könnten. Ein ehrgeiziges Ziel. Doch die Regierung steht unter Druck: 2014 sind Wahlen in Indien.