Gesamtkunstwerk Christoph Schlingensief
Er war Provokateur und mehr: Theater- und Operngenie, Filmemacher und Künstler: Christoph Schlingensief. Bettina Böhlers erster Film zeigt seine Bandbreite.
"Ich warʹs!" - Der Kunstberserker
"Das Laute ist mir näher als das Leise", so beschrieb Christoph Schlingensief sich selbst. Kein Wunder, dass er oft zum Megafon griff. Aber der Provokateur war mehr: Theater- und Opernregisseur, Filmemacher, Bildender Künstler und Politclown! Jetzt, zehn Jahre nach seinem Tod, gibt es den ganzen Schlingensief zu bestaunen: in Bettina Böhlers Kinofilm "In das Schweigen hineinschreien" (2020).
Nervensägenmassaker - Seine Filme
Schlingensief beginnt als Filmemacher - mit gerade neun Jahren. Später bewirbt er sich an der Filmhochschule - vergeblich. Aber das hält ihn nicht auf: Er macht tatsächlich 20 Filme! Alle ein Angriff auf unser Nervensystem. Blut spritzt, Kehlen werden durchtrennt, Schauspieler brüllen. Und doch spiegelt sich in ihnen unsere Geschichte. Der Neue Deutsche Film bekommt hier eine brutale Schwester.
"Wähle Dich Selbst!"
1998 gründet Schlingensief die Partei "Chance 2000". Damit wischt er die Grenze zwischen Kunst und Politik endgültig weg. Es ist Wahlkampf: Die Partei der "Arbeitslosen und von der Gesellschaft Ausgegrenzten" verbreitet den Slogan "Scheitern als Chance" - und erreicht bei der Bundestagswahl 0,058% der Stimmen. Ziel erreicht! Bei der medialen Beachtung kann "Chance 2000" mit den Großen mithalten.
Pack die Badehose ein - zum Protest
Höhepunkt seines Wahlkampfs ist das Bad im Wolfgangsee. Schlingensief lädt vier Millionen Arbeitslose zum Schwimmen ein. So soll der Wasserspiegel des Sees steigen und das Ferienhaus von Bundeskanzler Kohl geflutet werden. Statt vier Millionen kommen 100 Betroffene. Kein Problem, Scheitern gilt ja als Chance. Und gewonnen hat auf jeden Fall die Kunst: Die Performance geht in die Geschichte ein.
Tiefe Wunden auf dem Grünen Hügel
2004 inszeniert Schlingensief Wagners "Parsifal" in Bayreuth. Ein sechsstündiger blutiger Erlösungsmarathon. Die Kritik feiert ihn, das Publikum jubelt. Für Schlingensief selbst bleibt Bayreuth Traum und Trauma. Sein Streit mit Wolfgang Wagner macht Schlagzeilen. Er hat das Gefühl, der Mythos sei stärker als er. Später führt er seine Krebserkrankung auch auf den Stress am Grünen Hügel zurück.
Das Fremde in mir
Im Januar 2008 erhält Schlingensief die Diagnose Lungenkrebs. Auch hier geht er in die Offensive, macht sein Leiden öffentlich. Er schreibt eine Art Requiem: "Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" - eine Theaterperformance von schier unerträglicher Intensität. Mit ihr schreit er seine Wut, seine Angst heraus. Aber er, der Laute, kann plötzlich auch ganz leise sein - und zärtlich.
So schön wie hier
Schlingensief schreibt ein Tagebuch seiner Krebserkrankung mit dem berührenden Titel: "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein". Er lässt alle teilhaben an seiner Suche nach sich selbst, nach dem Sinn des Lebens. Ein unbarmherziges Protokoll und ein erstaunlich unpathetisches Buch, das sich lange in den Bestsellerlisten hält. Immer wieder stellt er darin die Frage: Wo ist Gott?
Ein afrikanisches Bayreuth?
Schlingensief will, dass etwas bleibt. Er gründet das Operndorf in Burkina Faso, in einem der ärmsten Länder Afrikas. Ein kultureller Ort, ein globales Kunstprojekt, eine Vision, wo aber auch Kinder lernen und Kranke behandelt werden. Architekt Francis Kéré baut hier mit dem Rohstoff seines Landes: Lehm. Statt Kolonialismus will Schlingensief ein Zentrum schaffen für Afrikas kulturelle Vielfalt.
Zu spät? Die Biennale in Venedig
Im August 2010 stirbt Christoph Schlingensief. Und so erlebt er seinen größten Triumph nicht mehr. Im Juni 2011 öffnet die Biennale in Venedig ihre Tore. Der Deutsche Pavillon ist seiner letzten großen Arbeit gewidmet: "Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir". Seine Installation überzeugt nicht nur das Publikum. Die Jury verleiht ihm posthum den Goldenen Löwen. Jetzt kennt ihn auch die Welt.
Ein heiliger Narr im Museum
Schlingensief schuf einen ganzen Kosmos. Die Berliner Schau ist nur der Anfang einer Wiederentdeckung. Sie reiste weiter nach New York ans MoMA. Hommage für einen Künstler, der mit Kunst radikal ins Leben eingriff - furchtlos, voller Verantwortung. Christoph Schlingensief: Ein fast heiliger Narr. Autorin: Andrea Horakh.