Geschlossene Grenzen für Corona-Apps
8. Juni 2020Als die französische Warn-App "StopCovid" vor einer Woche veröffentlicht wurde, warnte die Regierung in Paris die Bevölkerung mit drastischen Worten: Wenn die App nicht genutzt werde, gebe es "mehr Infizierte, mehr Tote und eine schnellere Rückkehr in den Ausnahmezustand", so Digital-Staatssekretär Cédric O. Wenige Tage später spricht das Kabinettsmitglied von einem "guten Start". Mehr als eine Million Menschen in Frankreich haben die App nach Regierungsangaben in den ersten vier Tagen heruntergeladen und aktiviert.
Gleichwohl macht die Anwendung technische Probleme. Vor allem der Kontaktaufbau zwischen iPhones hakt, wenn die App nicht im Vordergrund läuft oder das Smartphone in den Energiesparmodus wechselt. Ein Phänomen, das mit dem französischen Sonderweg in der App-Entwicklung zu tun hat. "StopCovid" greift nämlich nicht auf die Schnittstellen von Google und Apple zurück. So ist es möglich, dass zwei iPhone-Besitzer mit installierter App die Mindestanforderung von 15 Minuten engem Kontakt im Abstand von gut einem Meter haben, aber beide Apps diesen Kontakt nicht registrieren.
Für den Tourismus aktuell unbrauchbar
Neben technischen Unzulänglichkeiten ist zudem die Frage offen, ob "StopCovid" auch Touristen und Geschäftsreisenden hilft. Die App kann zwar vor Reiseantritt auf ausländischen Handys installiert werden, doch für den touristischen Bereich ist ihr Einsatz allenfalls in engen Grenzen möglich.
Für eine Krankmeldung in der App braucht der Nutzer den Code eines positiv ausgefallenen französischen Corona-Tests. Schlägt der Corona-Test nach der Rückkehr aus dem Urlaub in der Heimat an, bliebe das System "blind". Kontaktpersonen würden nicht gewarnt.
Streit um die App-Architektur
Technisch unproblematischer im Hinblick auf die iPhone-Einschränkungen dürfte die deutsche Corona-Warn-App sein, die in wenigen Tagen an den Start gehen soll. Vom Aufbau funktioniert sie wie die französische. Sie registriert alle Nutzer, die sich eine Viertelstunde in der direkten Umgebung des Gerätes aufhalten.
Technisch allerdings verfolgen die beiden Apps zwei grundverschiedene Philosophien. Während in Frankreich alle Kontakte auf einem Server zentral gespeichert werden, geschieht dies in Deutschland auf dem Smartphone der Besitzer. Diese dezentrale Funktionsweise verlangen die Hersteller Google und Apple, und sie wird auch von den meisten Datenschützern präferiert. Auf dem App-Server werden dann lediglich anonyme IDs von Corona-positiv Getesteten hinterlegt, mit denen jedes Smartphone selbst ausrechnen kann, ob es mit dieser ID einen relevanten längeren Kontakt gegeben hat.
Infektionsmeldung nur nationalstaatlich
Mittlerweile verfolgen mit Österreich und der Schweiz wichtige Touristen-Hochburgen das Konzept von Apple und Google. Somit dürfte es technisch möglich sein, dass Handys mit deutscher App die IDs von ausländischen Apps mit dezentraler Speicherung auf ihren Geräten registrieren. Aktuell aber scheitern alle Systeme noch daran, Krankmeldungen länderübergreifend bekannt zu machen, berichtet der Wiener IT-Sicherheitsforscher Christian Kudera im DW-Interview. Gleichwohl arbeiten erste Teams an Konzepten, wie diese Frage gelöst werden kann.
Das aktuelle Problem der Krankmeldungen wird an einem fiktiven Beispiel deutlich: Ein Gast auf einer Berghütte in den Schweizer Alpen wird nach seiner Rückkehr nach Deutschland positiv auf Corona getestet. Die Infektion wird umgehend auf dem deutschen App-Server dokumentiert. Die App der Bedienung auf der Berghütte in der Schweiz, mit der sich der Gast eine halbe Stunde auf kurzer Distanz unterhalten hat, konnte zwar womöglich die ID des Deutschen speichern. Da die Schweizer App aber keine Verbindung zum deutschen Server aufnimmt oder ein Austausch der IDs zwischen den Servern stattfindet, würde die Bedienung in der Folgezeit nichts von ihrem relevanten Kontakt zu einem Corona-Positiven erfahren.
App-Reichweite als neue Grenze in Europa
Für eine zukünftige länderübergreifende Funktion muss der Austausch von Informationen zwischen den nationalen App-Servern geregelt werden. Außerdem müsste der Smartphone-Besitzer seiner App mitteilen, wenn er sich im Ausland befindet. "Es wäre natürlich das Einfachste, dies über die Satellitenortung GPS oder Roaming automatisiert zu machen. Doch wir wissen aus den Debatten der vergangenen Monate, dass die Datenschutzbedenken bei Standortdaten besonders groß sind", so IT-Forscher Kudera von SBA Research. Alternativ könnten Programmierer natürlich eine Funktion integrieren, mit der die Nutzer die App manuell über den Auslandsaufenthalt informieren.
Der Abgleich von Daten zwischen den Länderservern ist auch politisch umstritten. Die Akzeptanz der App in der Bevölkerung könnte sinken, wenn ein Land seine Server für den Zugriff aus dem Ausland öffnet.
EU-Kommission macht Druck
Die Europäische Union beobachtet besorgt, dass in der Krise die EU-Staaten unterschiedliche Konzepte verfolgen. Beim Kontakt-Tracing ist "die Gewährleistung der Interoperabilität von entscheidender Bedeutung", erklärt eine Sprecherin der EU-Kommission. Entsprechend wirbt die EU seit Wochen für länderübergreifende Funktionen. Eine rechtliche Handhabe, um diese Interoperabilität durchsetzen, habe man allerdings nicht, so die Sprecherin.
Sollte das länderübergreifende Tracing per App nicht realisiert werden, bringt die EU ihr Frühwarn- und Reaktionssystem (EWRS) zur weiteren Kontaktverfolgung ins Spiel - also letztlich den traditionellen Austausch zwischen den Gesundheitsämtern der Mitgliedsstaaten.
Zur Frage des länderübergreifenden Tracings gibt es auch von den App-Entwicklern keine positiven Nachrichten. Weder SAP noch die Deutsche Telekom wollten sich zu dieser Frage gegenüber der DW äußern. Angesichts der technischen Rahmendaten ist gleichwohl ausgeschlossen, dass die deutsche App eine länderübergreifende Funktionalität besitzt, wenn sie voraussichtlich Mitte Juni veröffentlicht wird.
Debatte über Wirksamkeit der App
IT-Sicherheitsexperte Christian Kudera verweist noch auf einen anderen Aspekt. Mit den aktuell niedrigen Infektionsraten lässt sich wissenschaftlich nicht prüfen, ob die Kontaktverfolgung via App überhaupt ein wirksamer Weg der Pandemie-Bekämpfung ist.
Ein Forscher-Team der Universität Oxford geht in einer Modellrechnung davon aus, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung Tracing-Apps nutzen müsste, damit sie das Infektionsgeschehen beeinflussen könnte. Einen derart hohen Wert erreicht bislang aber noch kein einziger EU-Staat. Aus der weltweiten Praxis gibt es ebenfalls ernüchternde Zahlen. In Australien hat die App in mehr als einem Monat lediglich einen Infizierten warnen können - über die den Behörden bereits bekannten Kontakte hinaus.