Gespanntes Verhältnis: China und Indien
21. Mai 2013Es sollte ein Symbol sein für die Bedeutung, die China seinem Nachbarn, Partner und Rivalen Indien beimisst: die erste Auslandsreise des neuen chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang führt Ende Mai nach Indien. Genau diese Reise wollte der indische Außenminister Salman Khurshid bei seinem zweitägigen Besuch in Beijing am 9. und 10. Mai vorbereiten. Doch dann wurde die Reise durch den seit Jahrzehnten andauernden Grenzkonflikt im Himalaya gefährdet. Bis heute konnte der tatsächliche Grenzverlauf zwischen den mit 2,6 Milliarden Menschen bevölkerungsreichsten Länder der Welt nicht geklärt werden.
Schwelender Grenzkonflikt
Vor mehr als 50 Jahren, im Oktober 1962, führten Indien und China einen kurzen, aber heftigen Grenzkrieg. China drang damals weit in den indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh ein und beansprucht dort noch heute fast 90.000 Quadratkilometer Land. Genauso beansprucht Indien die fast 40.000 Quadratkilometer große strategisch wichtige Aksai-Chin-Region nordöstlich von Kaschmir, die unter chinesischer Besatzung steht. Dass Indien seit 1959 der vom Dalai Lama angeführten Exilregierung Tibets Zuflucht gewährt, ist eine weiterer Stachel in den chinesisch-indischen Beziehungen.
Nach Angaben der indischen Behörden rückten Mitte April chinesische Truppen 19 Kilometer auf indisches Staatsgebiet vor und errichteten im Nordosten von Kaschmir ein Militärlager. Indien reagierte zunächst zögerlich. Auf Druck der Öffentlichkeit schickte es dann aber seinerseits Soldaten in die Region. Drei Wochen lang standen sich indische und chinesische Truppen auf nur 300 Metern Auge in Auge gegenüber. Nach langwierigen Verhandlungen der Kommandeure vor Ort und nach Gesprächen auf höchster diplomatischer Ebene zogen beide Seiten ihre Truppen zurück. Letztlich hatten keines der beiden Länder Interesse an einer weiteren Eskalation der Spannungen.
Die Chinaexpertin Anuradha Chenoy von der Jawaharlal-Nehru-Universität ist erleichtert darüber, dass die aus indischer Sicht schwerste Grenzverletzung in den letzten Jahren glimpflich ausgegangen ist. Sie sagte im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Indien und China sind Nuklearmächte. Natürlich ist Chinas Armee der indischen weit überlegen, aber Indien kann China trotzdem verwunden. Beide sind aufstrebende Mächte und Motoren der Wirtschaft in der weltweiten Finanzkrise. Würden sie in einen ernsthaften Konflikt geraten, dann hätte dies extreme politische und wirtschaftliche Verwerfungen weltweit zur Folge."
Engere Beziehungen
Allen politischen Ränkespielen zum Trotz rücken beide Länder auf wirtschaftlicher Ebene aber immer enger zusammen. Der wechselseitige Handel wächst stetig. China und Indien unterstützen sich zudem in internationalen Organisationen, vertreten ähnliche Positionen, wenn es zum Beispiel um den Kampf gegen den Klimawandel geht. 2006 begingen beide Länder sogar das Jahr der Freundschaft. Der indische Außenminister Salman Khurshid betonte noch Mitte April bei seinem Besuch der Deutschen Welle in Berlin: "Wir sind gute Nachbarn. Wir hatten eine schwierige Geschichte, aber haben die Vergangenheit hinter uns gelassen. Wir haben einander die Hände gereicht. Wir glauben, dass das asiatische Jahrhundert kommen wird, in dem China und Indien zusammenarbeiten."
Indiens Dilemma
Indien befindet sich derzeit in einer äußerst schwierigen Lage. Seit Januar 2013 sind die Beziehungen mit dem alten Erzfeind Pakistan auf einem neuen Tiefpunkt angekommen, jegliche Art von Dialog ist ausgesetzt. Der Tod des Inders Sarabjit Singh, der in Pakistan in einem Gefängnis angegriffen und so schwer verletzt wurde, dass er eine Woche später starb sowie die Racheattacke gegen einen pakistanischen Gefangenen in Indien, haben das Klima erneut vergiftet. China und Pakistan pflegen dagegen traditionell sehr enge Beziehungen. Pakistan importiert zum Beispiel einen Großteil seiner Waffen aus China.
Politikwissenschaftlerin Anuradha Chenoy bewertet beide Konflikte Indiens mit seinen Nachbarn unterschiedlich: "Ein großer Unterschied ist, dass China im Vergleich zu Pakistan innenpolitisch stabil ist. In Pakistan tun sich Militär und Politik jedoch nur dann zusammen, wenn es um Kaschmir und Indien geht. Die Verteidigungsausgaben zu steigern und neue Waffen zu kaufen, löst Indiens Probleme mit den Nachbarn nicht. Die lassen sich nur durch Dialog lösen". Wichtig, so Chenoy, sei vor allem, dass kein Land in Nationalismus verfalle.
Erwartungen an Chinas neue Führung
Indiens Außenminister Salman Khurshid glaubt, dass die neue chinesische Führung an engen Kontakten mit Indien interessiert ist und freut sich auf den ersten Besuch des neuen chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang in Indien: "Die gegenwärtige chinesische Regierung hat sich an uns gewandt und wir haben das begrüßt. Unser Premierminister hatte eine hervorragende Arbeitsbeziehung mit dem vorherigen Regierungschef."
Der renommierte Chinaexperte Sujit Dutta von der Jamia Millia Islamia Universität in Delhi ist eher skeptisch in Bezug auf die bilateralen Beziehungen. Gegenüber der Nachrichtenagentur AFP warnte er Indien davor, zu glauben, dass der Grenzkonflikt mit China bald gelöst werden könnte: "Die neue chinesische Führung legt es lediglich darauf an, zu testen, wie ernst es Indien mit seinen territorialen Ansprüchen wirklich ist." Die Politikwissenschaftlerin Anuradha Chenoy ist weder optimistisch noch pessimistisch. Fest stehe lediglich: "Li Keqiang hat angekündigt, dass er in den nächsten fünf Jahren verstärkt die Wirtschaft seines Landes und die dörfliche Entwicklung vorantreiben will. Außenpolitisch wird sich China wohl weiter den USA annähern." Für Indien sei daher extrem wichtig, auf die sich ändernden politischen Rahmenbedingungen flexibel zu reagieren, so Chenoy. Sie erwartet die kommenden Monate mit Spannung.