Europäische Arbeitnehmer überlastet
16. März 2015Erhöhte Herzfrequenz, Bluthochdruck, Magengeschwüre oder depressive Störungen sind Folgen einer Arbeitswelt, die sich in Deutschland und den europäischen Nachbarländern weiterhin rasant verändert. Aufgrund der technischen Möglichkeiten und der Erfordernisse der Globalisierung werden heute Arbeitsplätze mobiler und Arbeitszeiten immer flexibler. Einzig die Arbeitsergebnisse zählen und weniger der Zeitaufwand, in dem sie erbracht werden. Die leistungsabhängige und ergebnisorientierte Bezahlung verbreitet sich. Arbeitnehmer werden wie Selbstständige behandelt und verhalten sich schließlich auch so. Was für mehr Arbeitszufriedenheit sorgen sollte, bewirkt offenbar eher das Gegenteil, fanden die Autoren des jüngsten "Gesundheitsmonitors" der deutschen Bertelsmann-Stiftung heraus.
Von bundesweit 1000 befragten Erwerbstätigen bestätigte jeder Dritte, dass er nicht mehr wisse, wie er die wachsenden Ansprüche im Unternehmen bewältigen soll. "Der Teufelskreis beginnt mit der sogenannten Zielspirale", erklärt Gert Kaluza vom GMK-Institut für Gesundheitspsychologie, einer der Autoren der Bertelsmann-Studie. Sobald hochgesteckte Ziele von Mitarbeitern erreicht würden, seien diese erneut von ihnen zu steigern. "Wenn niemand einschreitet, ist die Folge eine ständige Überforderung", so Kaluza. Die Ergebnisse der Studie spiegeln nicht etwa subjektive Probleme einzelner, weniger belastbarer Mitarbeiter, sondern echte Probleme vieler hoch motivierter Arbeitnehmer nach objektiven Kriterien.
"Immer weniger Arbeitnehmer nehmen auf sich Rücksicht, sondern versuchen irgendwie zu funktionieren." Anja Chevalier von der Sporthochschule Köln weiß als Co-Autorin der Studie auch, wann es besonders gefährlich wird: Wenn vor allem Mitarbeiter mit einer höheren beruflichen Verausgabungsneigung, die zum Beispiel eine Beförderung erwarten, dann Ungerechtigkeiten erleben und mehrfach enttäuscht werden. Heute zählten alte Tugenden oder nachvollziehbare Kriterien in Betrieben immer weniger. Auf persönliche Stärken und Neigungen von Mitarbeitern würde auch immer weniger Rücksicht genommen. Kämen dann noch schwer erreichbare Ziele und mangelnde Informationsflüsse vor allem zu neuen Arbeitsmethoden im Unternehmen hinzu, werde es sehr belastend und führe zu Erkrankungen, so Chevalier.
Europaweite Klagen
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat im vergangenen Jahr eine Rangliste veröffentlicht, in der auf die körperlichen und psychischen Arbeitsbelastungen in 23 europäischen Ländern geblickt wird. Im Ländervergleich schneiden die Slowakei, Tschechien, Slowenien und die Türkei schlecht ab. Deutschland liegt auf Platz 17.
Milliardenschäden für Unternehmen
Die Probleme von überforderten Arbeitnehmern aus ganz Europa kennt auch die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Nach Angaben der EU-Behörde belaufen sich die nationalen Kosten von arbeitsbedingtem Stress in Frankreich zum Beispiel auf vier bis sechs Milliarden Euro. Ähnlich hoch seien die Kosten in Großbritannien, wo inzwischen Arbeitnehmer im Durchschnitt fast 24 Tage wegen arbeitsbedingter psychischer Erkrankungen fehlten. Seit Regierungspolitiker in Italien und Spanien versuchen, die Wirtschaft von vielen arbeitsrechtlichen Bedingungen zu befreien, stiegen die berufsbedingten Krankheiten deutlich an.
Personalkosten seien in jeder Kalkulation eines Unternehmens der teuerste Posten. Europaweit registriert die Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz (EU-OSHA) den Trend, dass Teams aus wirtschaftlichen Gründen verkleinert werden, ohne dass die Geschäftsleitung das Pensum für die Belegschaft reduziert. Die verbleibenden Angestellten müssten dann sehen, wie sie die anstehenden Aufgaben bewältigen.
"Arbeitsbedingter Stress ist das zweithäufigste Gesundheitsproblem in Europa. Für Unternehmen entstehen europaweit nach Schätzungen Kosten von rund 240 Milliarden Euro. Wir können uns einfach nicht leisten, das Thema zu ignorieren", stellt Christa Sedlatschek, Direktorin des EU-OSHA, fest. Bereits im vergangenen Jahr hat deshalb die Kampagne "Gesunde Arbeitsplätze" begonnen. Höhepunkt der europaweiten Kampagne gegen die Selbstausbeutung der Arbeitnehmer sollen Veranstaltungen im Herbst dieses Jahres sein.
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) will das Thema ebenfalls ernst nehmen. Der Wille zu vernünftigen Arbeitsbedingungen stehe außer Frage: "Eine gute Gesundheit der Arbeitnehmer liegt im ureigenen Interesse der Betriebe", steht in einem Schreiben der BDA, das der DW vorliegt. Arbeitgeber würden daher versuchen, verantwortungsvoll mit der Arbeitszeit ihrer Beschäftigten umzugehen, heißt es in einem Schreiben als Reaktion auf die aktuelle Bertelsmann-Studie.