Gewalt an Frauen: Ändert sich etwas?
5. Oktober 2024Geschlechtsspezifische Gewalt, also solche, die die sich aufgrund des biologischen oder sozialen Geschlechts gegen eine Person richtet, ist allgegenwärtig: Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat weltweit fast jede dritte Frau in ihrem Leben entweder körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt. Und das ist nur die erschreckende Spitze des Sexismus-Eisbergs.
Neben der viel beachteten #MeToo-Bewegung in den USA können Aktionen wie #aufschrei in Deutschland, die Massenproteste in Mexiko und Indien gegen Vergewaltigungen und Femizide oder jüngst der Fall von Gisele Pelicot in Frankreich einen Stein ins Rollen bringen - wenn Politik und Justiz nachziehen.
Frankreich: Gisèle Pelicot wird zur feministischen Ikone
Der Fall der 72-Jährigen schockiert in Frankreich und darüber hinaus: Gisèle Pelicot wurde über Jahre von ihrem Ehemann betäubt und von ihm und anderen Männern missbraucht. 200 Vorfälle filmte der Ehemann, sie dienen im nun laufenden Prozess gegen ihn und 50 weitere Männer als Beweismaterial. Das Besondere: Gisèle Pelicot setzte sich explizit dafür ein, dass der Prozess nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, "damit die Scham die Seite wechselt".
Um ihre Unterstützung für Pelicot und andere Opfer sexualisierter Gewalt zu zeigen, gingen im September mehrere tausende Menschen in verschiedenen französischen Städten auf die Straße und skandierten unter anderem: "Wir sind alle Gisèle!"
Laut Elke Ferner, Vorsitzende von UN Women Deutschland, geraten dadurch derzeit in Frankreich grundlegende Aspekte von Gewalt gegen Frauen wieder in den Fokus. Aber das reiche nicht. Die Politikerin und langjährige Expertin für Frauenrechte hält Neuerungen im französischen Strafrecht für notwendig. "Es gibt nicht mal eine Nein-heißt-Nein-Regelung, nach welcher sexuelle Handlungen gegen den erkennbaren Willen der anderen Person strafbar wären. Sondern in Frankreich muss sogar eine aktive Gegenwehr stattgefunden haben, damit man vor Gericht von Vergewaltigung spricht."
Indien: Diskriminierung und Frauenhass halten sich hartnäckig
In Indien hat zuletzt die Vergewaltigung und Ermordung einer Assistenzärztin für Empörung gesorgt: Die 31-Jährige wurde Anfang August tot in einem staatlichen Krankenhaus in Kolkata, der Hauptstadt des Bundesstaates Westbengalen, aufgefunden. Der jüngste von vielen Vergewaltigungsfällen im bevölkerungsreichsten Land der Welt löste massive Proteste aus. Beschäftigte staatlicher Krankenhäuser traten in den Streik. Westbengalen verschärfte die Strafen für Vergewaltigungen.
Das Verbrechen weckt bei vielen Inderinnen und Indern Erinnerungen an die brutale Gruppenvergewaltigung einer Studierenden 2012 in einem Bus in der Hauptstadt Neu Delhi. Die 23-Jährige verstarb damals an ihren schweren inneren Verletzungen. Die Proteste und die öffentliche Empörung seien 2012 sogar noch größer gewesen, erzählt die indische Frauenrechtsaktivistin Ranjana Kumari im Gespräch mit der DW.
Und doch stellt die Direktorin des Zentrums für Sozialforschung in Neu Delhi und Vorsitzende von Women Power Connect, einem Zusammenschluss von Frauenorganisationen, ernüchtert fest: "Wenn man sich die Zahlen anguckt, haben Gewaltverbrechen leider sogar seither zugenommen. Am stärksten betroffen sind Frauen aus Minderheiten und den untersten Gruppen unseres Kastensystems, den Dalit."
Die sexuelle Gewalt spiegelt laut Kumari die patriarchalen und frauenfeindlichen Strukturen der indischen Gesellschaft wider. Die gesellschaftlichen Normen zu ändern, dauere sehr lange, so die Expertin.
Und auch seitens der Politik und Behörden gebe es noch großen Nachholbedarf. Zwar wurden in den vergangenen Jahren Gesetze verschärft und neue Programme aufgelegt, aber laut Kumari bleibt vieles davon Theorie.
Immer wieder komme heraus, dass die Behörden versuchten, Dinge zu vertuschen, teils weigerten sich Beamte, die Anzeigen von Frauen aufzunehmen. "Zudem ist das Justizsystem ein Problem. Es dauert 10 bis 15 Jahre, bis ein Fall vor Gericht kommt. Das soll Abschreckung sein?"
Mexikos Frauen erheben sich gegen Femizide
In Mexiko werden jedes Jahr Hunderte Frauen Opfer eines Femizids - also ermordet, weil sie weiblich sind, meist vom (Ex-)Partner. 2023 waren es laut Behördendaten 827 - und die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Experten führen die vielen Frauenmorde in Mexiko auf den kulturell tief verwurzelten Machismo zurück sowie auf ein problembehaftetes Justizsystem, das Frauen kaum Schutz bietet.
Das erschreckende Ausmaß tödlichen Frauenhasses hat dazu geführt, dass die feministische Bewegung in Mexiko in den vergangene Jahren großen Aufwind erfahren und sich zum sozialen Aufstand entwickelt hat.
Die US-Juristin Julie Goldscheid, Expertin für geschlechtsspezifische Gewalt, erklärt dazu gegenüber der DW: "Massenproteste gegen Femizide und andere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt spielen eine wichtige Rolle dabei, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen."
Tatsächlich haben sich infolge der großen öffentlichen Aufmerksamkeit auch Justiz und Politik verstärkt des Themas angenommen - aber weitgreifende und effektive Maßnahmen blieben bislang aus. Die Blicke vieler Mexikanerinnen und Mexikaner sind nun auf Claudia Sheinbaum gerichtet, die im Juni zur ersten Präsidentin des Landes gewählt wurde. Sheinbaum hat bereits angekündigt, Frauen besser schützen zu wollen.
Deutschland: Elf Jahre nach #aufschrei noch viel zu tun
Betroffene begannen 2013 den Hashtag #aufschrei zu nutzen, um auf X (damals noch Twitter) von Ihren Erfahrungen mit Sexismus und Gewalt zu berichten. Das führte zusammen mit einigen Texten von Journalistinnen zum Thema zu einer breiteren Diskussion in Deutschland. Und die begünstigte wohl auch einige Änderungen der Jahre danach.
So ist seit 2015 die "Pille danach" rezeptfrei erhältlich, 2016 wurde das Sexualstrafrecht reformiert. Die Vorsitzende von UN Women Deutschland, Elke Ferner, erklärt: "Durch den Grundsatz 'Nein heißt Nein' werden nun Straftaten als Vergewaltigung bestraft, die vorher nicht als solche angesehen wurden. Wenn früher eine Frau nicht explizit nein gesagt hat, weil sie etwa in Schockstarre war oder die Kinder nebenan nicht gefährden wollte, war eine Einstufung als Vergewaltigung schwieriger." Wobei der damals ebenfalls diskutierte Grundsatz 'Ja heißt ja' noch klarer gewesen wäre, der von einem eindeutigen Einverständnis statt einer eindeutigen Ablehnung ausgeht.
Als aktuell drängendste Aufgabe in Sachen Frauenrechten und Schutz vor Gewalt sieht Expertin Ferner das geplante Gewalthilfegesetz, das nun endlich bald kommen müsse. Damit hätten von häuslicher Gewalt Betroffene einen Rechtsanspruch auf Beratung und Schutz und es gäbe erstmals einheitliche Vorgaben für die Finanzierung von Frauenhäusern und Beratungsstellen. Nach offiziellen Zahlen waren im vergangenen Jahr 250.000 Menschen in Deutschland von häuslicher Gewalt betroffen, jeden zweiten bis dritten Tag stirbt eine Frau durch Partnerschaftsgewalt.