"Wer desertiert, wird erschossen"
1. April 2009Rubén Mendez* ist 28 Jahre alt. Er ist kräftig gebaut und hat seine kurzen schwarzen Haare zurückgekämmt. An den Armen hat er Narben von Tattoos, die ihn als Mitglied der "Mara Diesyocho" kennzeichneten. Fotografiert werden will er nicht. "Wenn die Fotos veröffentlicht werden, schwebe ich in Lebensgefahr", sagt er.
"Eigentlich hatte ich nie vorgehabt, einer mara beizutreten. Ich ging auf eine Privatschule in Honduras Hauptstadt, Tegucigalpa, und lebte glücklich bei meiner Familie", fährt Rubén fort. Doch mit elf Jahren ermordete die Jugendgang "Mara Salvatrucha" seinen Onkel und Rubén schloss sich deren Erzfeinden, der "Mara Diesyocho", an.
Perspektivlose Jugendliche
Die meisten jugendlichen Gangmitglieder, die so genannten mareros, stammen nicht aus den ärmsten Bevölkerungsteilen. Sie schließen sich den Banden an, weil es in den Großstädten Zentralamerikas keine Arbeit und keine Rückzugsgebiete, wie beispielsweise Jugendzentren oder Sportplätze, gibt.
Um Geld zu verdienen, verkaufen sie Drogen wie Marihuana und Crack oder stehlen Luxusgüter wie Uhren oder MP3-Player. Wenn sich die Opfer bei Überfällen wehren, werden sie kaltblütig umgebracht. Dazu nutzen die mareros Messer und Macheten oder Pistolen und selbstgebaute Schrotflinten.
In der mara gilt eine strenge Hierarchie: Wer aufsteigen will, muss feindliche Gangmitglieder töten oder sich in anderer Form nützlich machen. Rubén war in der mara für die Disziplin verantwortlich: "Ich weckte die Jungs morgens um fünf, damit sie sich wuschen. Und ich achtete darauf, dass ihr Teller immer sauber war."
Außerdem dokumentierte Rubén die Verhaltensregeln der mara. Auf Anweisung führender Gangmitglieder änderte er ab und zu einzelne Regeln und listete sie fein säuberlich in einem Notizbuch auf.
Das Leben nach der mara
Aus einer solchen Gang wie der "Mara Diesyocho" auszutreten ist so gut wie unmöglich. "Wer desertiert, wird erschossen", sagt der ehemalige marero Geraldo Cingones* aus Guatemala. "Die Deserteure müssen sich verstecken und ihre Tattoos bedecken. Aber es passiert häufig, dass deren Freunde bald alle sterben. Und wenn sie keiner mehr kennt, dann können sie anonym weiterleben."
Der 35-jährige Geraldo lebt nicht in der Anonymität. Er distanzierte sich während eines siebenjährigen Gefängnisaufenthaltes von der mara. Heute kümmert er sich im Namen der guatemaltekischen Regierung um Kinder und Jugendliche in Problemvierteln.
"Wir sind immer nah an den Jugendlichen dran", sagt Geraldo. "Sie sehen, dass wir noch Teil der Gruppe sind. Aber wir stehlen nicht und üben keine Gewalt mehr aus." Das ermögliche ihnen, weiterhin mit den Jugendlichen zusammen zu arbeiten.
Zu viel Repression, zu wenig Prävention
In den drei Ländern El Salvador, Guatemala und Honduras wird erst seit drei bis vier Jahren Präventionsarbeit geleistet. Vorher herrschte die Politik der harten Hand: Polizei und Militär stürmten regelmäßig die Stadtbezirke mit hoher Kriminalitätsrate und nahmen wahllos tätowierte Jugendliche fest. Willkür von Justiz und Polizei gehörten bald zum Alltag.
Heidrun Zinecker, Professorin für Internationale Beziehungen an der Universität Leipzig, sagt: "Man sollte die Strukturen zur Verhinderung der Gewalt, sprich die Polizei, das Justizsystem und den Strafvollzug stärken."
Die beiden anderen zentralamerikanischen Länder, Nicaragua und Costa Rica, haben geringere Probleme mit Gewaltkriminalität. Costa Rica hat beispielsweise aus historischen Gründen kein Militär und ist ein relativ sozialer Staat. In Nicaragua wird seit Anfang der 90er Jahre auf den Dialog mit den Menschen gesetzt, sagt Zinecker.
"Die Polizei hat es geschafft, den Dialog zu den Menschen in den Wohnsiedlungen herzustellen", ergänzt Zinecker. Das erleichtere die Zusammenarbeit mit potentiellen Gewalttätern. Teilweise übernehme die Polizei in Nicaragua sogar die Arbeit von Sozialarbeitern. Und dieses Konzept scheint aufzugehen, die Gewaltraten in Nicaragua sind wesentlich niedriger, als in den nördlichen Nachbarländern.
Mehr Chancen für Jugendliche
Auch der ehemalige marero Geraldo Cingones wünscht sich mehr Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen in seiner Heimat Guatemala. Er hat auch einen konkreten Vorschlag, um die Lebensqualität der Jugendlichen zu verbessern: "Man könnte eine Chancenbörse eröffnen, die dieselben Dienste wie eine Jugendbande leistet. Die Börse sollte jedoch nicht im Gegenzug das Leben der Kinder fordern oder sie zum Stehlen aufrufen."
Am meisten müsse man sich aber um die Kinder und Jugendlichen kümmern, die von den Gangs bedroht werden. Man müsse sie aufpäppeln, ihnen ihr Selbstwertgefühl zurückgeben und das Verhältnis zu ihren Eltern stärken, sagt Geraldo. "Es ist wichtig, den Kindern und Jugendlichen einen Platz zum Entfalten zu bieten, der nicht die mara ist."
"Es gibt so viele Untersuchungen zur Gewaltkriminalität in unserer Heimat", sagt auch Rubén aus Honduras. "Ich glaube nicht, dass man die Gewalt besiegen kann. Aber man könnte sie wenigstens reduzieren." Es sei jedoch an der Zeit, dass Politiker und Wissenschaftler ihre Forschungsergebnisse endlich in die Tat umsetzen.
* Name von der Redaktion geändert
Autor: Yannick Jochum / Redaktion: Oliver Pieper