Ghetto in der Einöde
5. Januar 2003"Wir haben so einen schlechten Ruf bekommen." Die Sekretärin des Bürgermeisters von Espelkamp seufzt. Ihr Chef ist nicht zu sprechen. Aber sie hat die Nummer des Jugendamtleiters. Der hat die Nummer des Jugendarbeiters.
"Ja, leider," hat Klaus Kruse am Telefon gesagt, leider hat Espelkamp ein Problem mit den Aussiedlern. Klaus Kruse sitzt in einer alten Munitionsbaracke. Um ihn die übliche Jugendzentrumseinrichtung: abgewetzte Ledersofas, Tischfussball, Billard. Auf dem Couchtisch eine Kanne Brombeertee.
Kruse ist kein Kuschelpädagoge, aber ein Optimist. Er lässt sich nicht entmutigen, obwohl das manchmal schwerfällt. Zum Beispiel am letzten Juniwochenende. Bei der Fußball-WM in Korea spielt die Türkei um Platz drei. Ein paar Russlanddeutsche Jugendliche fahren durch die Stadt und provozieren die Türkenjungs. Genug Stoff für zwei Tage Krawall. 130 Streifenwagen fahren auf. Hubschrauber kreiseln über Espelkamp. Auf der Hauptstrasse stehen sich zwei Hundertschaften junger Menschen gegenüber. Auf der einen Seite die "Russen", auf der anderen die Türken. Klaus Kruse wollte zumindest seine Jungs zur Vernunft bringen, die, die in sein Jugendzentrum kommen. Er hat es nicht geschafft, aber er gibt nicht auf.
Von der Munitionsfabrik zur Flüchtlingsstadt
"Die junge Stadt im Grünen" - so preist sich Espelkamp im Internet an. Vor dem zweiten Weltkrieg lebten hier 1000 Menschen, hauptsächlich von der Landwirtschaft. Ein Örtchen in der waldigen Gegend bei Bielefeld, Westfalen. Dann kam die "Muna", die Munitionsanstalt des Heeres, 1939. Es entstand eine Barackenstadt, in der Granaten und Zünder hergestellt wurden. Eine Produktionsanlage für Giftgasmunition war noch im Bau, als der Krieg zu Ende ging. Die Briten wollten das ganze Areal sprengen, doch es kam nicht dazu. In die Rüstungsbaracken zogen Flüchtlinge aus dem Osten. Es kamen mehr Flüchtlinge, es wurden mehr Baracken gebaut.
Heute ist Espelkamp 50 Jahre alt - eine seltsame Retortenstadt, die sich im Wald versteckt. Wer das Zentrum sucht, findet einen breiten Boulevard, an dessen Bürgersteigen sich Bäckerei an Döner-Imbiss an Spielhalle an Angelshop an Pommesbude reiht. Abseits stehen die Wohnblöcke, parallel hingeklotzt mit Rasen dazwischen. Wohnen wie auf dem Reissbrett. Nichts ist gewachsen, alles ist neu.
28.000 Menschen leben jetzt hier, viele sind Abkömmlinge der Flüchtlingsfamilien. Ende der 1980er Jahre sind noch einmal 5.000 dazugekommen, die meisten von ihnen Russlanddeutsche. Die Stadt, ein sozialer Sprengsatz.
Keine Drogen, keine Gewalt
"Wir machen hier cliquenorientiertes Arbeiten," sagt Klaus Kruse. Das heißt, Gruppen, die sonst auf dem Marktplatz herumhängen, weil zu Hause kein Platz ist, bekommen in seiner Munitionsbaracke einen Raum, wo sie sich treffen können. "Dann geben wir ihnen Schritt für Schritt mehr Verantwortung. Wir wollen, das die sich selber organisieren und ihre Konflikte lösen." Der Jugendarbeiter hält sich zurück, wacht aber über die Hausordnung. Wichtigste Punkte: Keine Drogen, keine Gewalt. Das durchzusetzen, ist schwer genug.
Frauen als Hoffnungsträgerinnen
"Verhalten in einer demokratischen Gesellschaft," meint Kruse, "müssen wir hier erst üben". Gerade die jungen Männer aus den Aussiedlerfamilien kämen mit ganz anderen Werten nach Deutschland. Männlichkeit verträgt sich nicht mit "reden", Kompromissbereitschaft ist Schwäche. Gewalt ist eine Option. Drogen sind cool.
Kruse setzt auf die neue Mädchengruppe. Türkinnen, Einheimische und Russlanddeutsche haben sich zusammengetan, um gemeinsam zu kochen und den dominanten Jungs zu entgehen.
Auch die waren jetzt schon einmal gemeinsam im Jugendzentrum. Die Türken in dem einen, die Russen in dem anderen Raum. "Alles ist gutgegangen", sagt Optimist Kruse. "Am Ende konnte ich sogar die Zwischentür aufmachen."