Gibt es in Russland "orthodoxe Taliban"?
6. September 2017Konstantin Dobrynin scheut keine großen Worte. "Vor unseren Augen formiert sich eine fundamentalistische religiöse terroristische Organisation, die weder mit russischen Traditionen, noch mit wahrer Orthodoxie zu tun hat", schrieb der Anwalt des russischen Filmregisseurs Alexej Utschitel auf Facebook. Dobrynin rief den Staat und die Russisch-Orthodoxe Kirche auf, eine "extremistische Front" zu verurteilen und zu zerstören.
Wie Islamisten in Europa
Anlass war ein Vorfall am 4. September in der viertgrößten Stadt Russlands, Jekaterinburg am Ural. Überwachungsvideos zeigen, wie am frühen Morgen ein Kleintransporter die Eingangstür des "Kosmos"-Kinos rammt, der Fahrer aussteigt und offenbar bewusst das Auto anzündet. Es wird berichtet, dass im Auto auch große Gasflaschen waren, die jedoch nicht explodierten.
Bei dem Brand wurde niemand ernsthaft verletzt. Bei dem mutmaßlichen Brandstifter soll es sich um einen offenbar geistig verwirrten Mann aus einer Nachbarstadt handeln. Ermittler werfen dem 39-Jährigen Brandstiftung vor, ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft. Über Ermittlungen wegen Extremismus ist nichts bekannt.
Dabei erinnert der Vorfall an die Methode von Islamisten, die in Europa mit Autos tödliche Anschläge verüben. Der Bürgermeister Jekaterinburgs, Leonid Rojsman, sprach auf Twitter von einem "terroristischen Anschlag" und vermutete einen Zusammenhang mit Protesten gegen den neuen Historienfilm von Alexej Utschitel "Matilda", in dem es um die Liebe des künftigen russischen Zaren Nikolaus II. zu einer Ballerina geht. Lokale Medien haben eine Videoaufnahme veröffentlicht, auf der der mutmaßliche Brandstifter an einem solchen Protest teilnimmt.
Empörung über "Matilda"
Der Film "Matilda" soll erst Ende Oktober in Russland in die Kinos kommen, sorgt jedoch seit Monaten für heftige Proteste. Inoffizieller Kopf der Bewegung ist die Duma-Abgeordnete Natalja Poklonskaja. Sie und ihre Mitstreiter werfen dem Regisseur Verunglimpfung des Andenkens des letzten Zaren vor, den die Russisch-Orthodoxe Kirche heilig gesprochen hat. "Matilda" war nicht im Programm, doch das "Kosmos"-Kino in Jekaterinburg steht neben einer orthodoxen Kathedrale, die an der Stelle gebaut wurde, wo Nikolaus II. samt Familie 1918 von den Bolschewiki getötet wurde.
Der Brand in Jekaterinburg ereignete sich wenige Tage, nachdem in St. Petersburg Unbekannte Molotow-Cocktails in ein Studio des Regisseurs Alexej Utschitel geworfen hatten. Die Täter wurden bisher nicht gefunden.
Abgesetzte Oper, demolierte Skulpturen
Manche in Russland beschreiben die Ereignisse rund um "Matilda" als das Werk einer Art "orthodoxer Taliban". Es geht um immer häufigere Fälle, in denen Menschen, die sich selbst als "orthodoxe Aktivisten" beschreiben, nicht nur gegen Künstler oder Kunstobjekte protestieren, sondern drohen und Gewalt anwenden.
Eine Zeitung aus Jekaterinburg warnte bereits 2014 vor einer "religiösen Zensur" in Russland. Anlass damals waren abgesagte Konzerte von westlichen Heavy-Metall-Bands, Proteste gegen Theaterstücke oder Ausstellungen mit Jesus-Bezug. Das alles geschah vor dem Hintergrund einer Gesetzesänderung im Jahr 2013, die Haftstrafen für die "Verletzung religiöser Gefühle" eingeführt hatte.
Besonders ereignisreich war das Jahr 2015. So wurde in Nowosibirsk die Wagner-Oper "Tannhäuser" abgesetzt, nachdem sich orthodoxe Aktivisten, darunter ein Erzbischof, darüber beschwert hatten. In Moskau zerschlugen Mitglieder einer orthodoxen Splittergruppe namens "Gottes Wille" Skulpturen bei einer Ausstellung moderner Kunst. Und in St. Petersburg wurde eine Mephisto-Figur auf der Fassade eines denkmalgeschützten Hauses demoliert.
Der falsche Vergleich
Nikolay Mitrokhin, Orthodoxie-Experte an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen, sieht in den jüngsten Ereignissen um den Film "Matilda" eine Tendenz. "Das ist eine Fortsetzung dessen, was in Russland in den vergangenen rund 20 Jahren geschah - straffreie Aktivitäten von Extremisten, die den orthodoxen Glauben als eine Rechtfertigung für ihre Taten benutzen", sagte Mitrokhin im DW-Gespräch. Er schätzt die Zahl dieser Menschen auf einige Tausend, die in verschiedenen Gruppen und Sekten organisiert seien. "Der Film 'Matilda' berührt die Interessen einer großen Gruppe von Monarchisten", sagt Mitrokhin. "Die Zarenfamilie ist für sie ein Objekt der Verehrung. Sie zeigen Unzufriedenheit, sobald sie die Gefahr von Verunglimpfung sehen."
Ein Vergleich zwischen diesen Menschen und den radikal-islamischen "Taliban" oder der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) sei jedoch irreführend. "Die Taliban und der IS sind zentralistische Organisationen, die eine große Unterstützung haben", sagt der Experte: "In Russland hat diese Bewegungen eine marginale Unterstützung bei der Bevölkerung, sie sind schlecht strukturiert und haben keinen Anführer."
Auch Professor Joachim Willems, Religionsexperte und Russland-Kenner von der Universität Oldenburg, hält den Taliban- und IS-Vergleich für falsch. "Der IS hat große Teile verschiedener Staaten im Nahen Osten besetzt und eine quasi staatliche Struktur aufgebaut, mit Steuern, Schulen. Das ist nicht vergleichbar mit dem, was in Russland geschieht", sagte Willems der DW.
"Manche glauben, sie dürfen alles"
"Das Problem ist, dass sich einerseits die Kirchenleitung von Gewalt distanziert, andererseits sowohl die Kirchenleitung als auch die politische Führung deutlich macht, dass das, was da eine gewalttätige Form annimmt, eigentlich auf der eigenen Linie und im eigenen Interesse ist", sagt Willems. Dieses Interesse sei unter anderem eine Abgrenzung eines "patriotischen, frommen und orthodoxen Russlands" vom Westen. "Das sind Geschichtsbilder, die solchen extremistischen Gewaltakten letztlich zugrunde liegen", erläutert der Experte.
Die Orthodoxe Kirche in Jekaterinburg verurteilte die Brandstiftung und kritisierte diejenigen, die einen Zusammenhang zwischen der Tat und der kritischen Haltung gegenüber dem Film "Matilda" seitens der "orthodoxen Öffentlichkeit" herstellen wollen.
Nikolay Mitrokhin sieht den Grund für die zunehmende Gewalt von "orthodoxen Aktivisten" in deren Straffreiheit. Der russische Präsident Wladimir Putin sei überzeugt, dass die Kirche ihm eine "massenhafte Unterstützung sichern wird, was eine Illusion ist", sagt Mitrokhin. Die gefährliche Folge: "Manche glauben, sie dürfen alles."