Gilberto Gil in Feierlaune
3. August 2010So kommt der ausgelassene Forró-Tanz aus Brasiliens Hinterland erstmals auch im Ausland zu Ehren. Das größte und wichtigste aller Feste im Nordosten ist São João im Juni, das Johannisfest, wo alle Welt ausgelassen Forró tanzt. "Das Wort Forró ist eine Verballhornung des englischen "for all", also für alle", erklärt Gilberto Gil. "Englisch konnte doch damals im 19. Jahrhundert niemand." Tanzen aber umso mehr, und der Forró mit seinen verschiedenen Schritten und Varianten wurde bei der Landbevölkerung im Nordosten Brasiliens sehr schnell populär. Seine Wurzeln liegen sowohl in Afrika als auch in Europa, der Lundu vermischte sich mit der Polka zum Baião, irisch-schottische Folkelemente mutierten zum Xoté. Als König des Forró gilt in Brasilien unangefochten der 1989 verstorbene Luiz Gonzaga.
Ein brasilianischer Robin Hood namens Lampião
"Andere Musikarten kommen und gehen", sagt Gil, "der Forró ist jetzt noch genauso populär wie zu meiner Kindheit." Damals lebte Gil in dem 800-Seelen-Nest Ituaçu im Hinterland Bahias. Überall plärrte Gonzagas Musik aus den Kofferradios, und wenn ein Fest anstand, folgte der kleine Gilberto gemeinsam mit den anderen Kindern der Musikkapelle auf den Dorfplatz. Den Takt gibt beim Forró die Sanfona, das Akkordeon an, Triangel und Zabumba-Basstrommel sorgen für das rhythmische Beiwerk. Meist treten die Forró-Musikanten im Stil der berüchtigten Cangaceiro-Räuberbanden auf: die breitkrempigen Lederhüte mit den aufwendigen Ornamenten quer auf dem Kopf, Ledersandalen an den nackten Füßen, den Patronengurt quer über der Brust gekreuzt, ganz wie einst Lampião und seine Männer. Lampião ist das brasilianische Pendant zu Robin Hood. Nachdem sein Vater Anfang des letzten Jahrhunderts von Großgrundbesitzern brutal ermordet wurde, schwor er Rache, überfiel fortan die Reichen und teilte seine Beute mit den Armen. "Bis heute wird Lampião auf dem Land als Held verehrt", erzählt Gil. "In vielen Forrós werden seine Heldentaten besungen."
Vom Anzugträger zur Kultfigur
Das Leben führte Gil fort aus Bahia und vom Forró, er studierte Betriebswirtschaft und zog mit dem Abschluss in der Tasche nach São Paulo. Doch schon bald hing er den neuen Job an den Nagel, die Musik ließ ihn nicht los. Als Dreijähriger hatte er getrommelt, mit zehn spielte er Trompete und Akkordeon, und als Teenager verfiel er der Bossa Nova. Immer offen für Neues kreierte Gilberto Gil in den 60er Jahren zusammen mit seinem Freund Caetano Veloso eine neue Musikrichtung, den Tropicalismo, um die starren Traditionen brasilianischer Musik aufzulockern. Die Bewegung schlug hohe Wellen, die kritischen Texte der Tropicalistas taten ein Übriges: 1969 wurde Gilberto Gil als Kultfigur der politischen Opposition von der damaligen Militärregierung verhaftet und für drei Jahre des Landes verwiesen. Heute ist Brasilien längst eine Demokratie, aber immer noch hören die Menschen auf die Botschaften Gils. Ob er über favelas, Straßenkinder, Rassendiskriminierung oder Umweltverschmutzung singt: Immer kämpft er für eine bessere Welt: "Die Musik öffnet uns die Augen für die Schönheiten im Leben, aber auch für die vielen schlimmen Dinge", meint er. "Vielleicht hilft sie uns, die schönen Dinge zu bewahren und die schlechten zu bekämpfen."
Ein Meister der Verführung
Allen Spielarten brasilianischer populärer Musik hat Gil im Laufe seiner langen Karriere schon seinen Stempel aufgedrückt. Er flirtete mit Discomusik, Rap, Jazz und Pop, arbeitete mit den unterschiedlichsten Musikern von Sting und Elton John bis Fela Kuti oder Jimmy Cliff, reiste rund um den Erdball und spielte auf allen Top Festivals von Los Angeles über Montreux bis Lagos in Nigeria. Immer im Gepäck hat er seine außergewöhnliche, helle Stimme, die er virtuos in ihrer ganzen Bandbreite ausschöpft. Gilberto singt mit dem Herzen, mit fast erotischer Hingabe und beneidenswerter Leichtigkeit, und vielleicht ist er genau deswegen ein Meister der Verführung, dem die Fans seit fast 50 Jahren zu Füßen liegen.
Visionen
Der Mann hat über 50 Alben veröffentlicht, 12 Mal Gold und 5 Mal Platin erhalten und 7 Grammys gewonnen. Starallüren sind ihm fremd, stattdessen möchte Gilberto Gil Dinge bewegen. Deswegen gründete er 1990 die Umweltorganisation Onda Azul (Blaue Welle). 2002 berief ihn Präsident Lula da Silva gar zum Kulturminister, ein Amt, das er 2008 auf eigenen Wunsch abgab. "Es war sehr anstrengend, gleichzeitig als Minister und Musiker aktiv zu sein", begründete Gil seinen Rückzug. "Aber es war auch eine sehr wichtige Phase meines Lebens, weil ich so immer wieder die relevante Rolle der Kultur für die gesellschaftliche Entwicklung in den Fokus rücken konnte." Ohne politisches Amt wirkt Gil wie befreit. Die machtorientierte Welt des Ministeralltags habe ihn zunehmend zermürbt, gibt er zu: "Auf dem Weg vom harten, materialistischen zum milderen, spirituelleren Zeitalter werden aber Werte wichtiger, die zunächst nicht mit Händen zu greifen sind." Werte, die er in der Musik seiner Kindheit wieder findet. Werte, die für alle gelten. Forró eben.
Autorin: Suzanne Cords
Redaktion: Matthias Klaus