Die EU hat die Kurve gekriegt
22. Juni 2017Die Einladungen zu den Brüsseler Gipfeltreffen, die EU-Ratspräsident Donald Tusk verschickte, kamen meist als Einführung in die gemeinsame Depression daher, denn immer ging es um schwere Krisen und Herausforderungen. Aber dieses Mal demonstriert Tusk Frohsinn: "Die jüngsten Entwicklungen auf dem Kontinent scheinen darauf hinzudeuten, dass wir allmählich die Kurve kriegen", schrieb er an die Regierungschefs der 28 Mitgliedsländer.
Die Gründe: Die Zustimmung zur EU steigt europaweit in den Umfragen. Das Wirtschaftswachstum hat Fahrt aufgenommen. Der Widerstand gegen US-Präsident Donald Trump und den Brexit schweißt zumindest 27 der Staaten enger zusammen. In Frankreich wurde der bekennende Europäer Emmanuel Macron gewählt. Diese guten Nachrichten heben die Stimmung, das bestätigt auch die Bundesregierung in Berlin.
Ein Schub für die Zusammenarbeit
Nach der Wahl in Frankreich sieht es sehr nach einer Renaissance des deutsch-französischen Tandems aus. In einem aktuellen Interview erinnerte Macron dazu an die Regierungszeit des jüngst verstorbenen Altkanzlers Helmut Kohl. "Ich wünschte mir", so Macron, "wir würden zum Geist der Kooperation zurückkehren, wie er einst zwischen François Mitterrand und Helmut Kohl herrschte". Der französische Präsident möchte mit Deutschland eine "Allianz des Vertrauens" schmieden. In Berliner Regierungskreise wird man das gerne hören; vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel dürfte sich freuen, dass sie jetzt in Europa wieder einen Partner hat, der bereit ist, seinen Teil der Aufgaben zu schultern.
Das spielt besonders bei der seit Monaten verhandelten engeren Zusammenarbeit in der europäischen Verteidigung eine Rolle. Der wollen die Regierungschefs einen Schub geben und die Richtung festlegen. Konkrete Beschlüsse über Finanzierung und Einzelvorhaben folgen später, zunächst geht es darum, wie die Kooperation aussehen soll und wer mitmachen will oder darf. Deutschland ist der Auffassung, dass manche Staaten hier schneller vorangehen und andere nach Belieben folgen könnten.
Ratspräsident Tusk dagegen wirbt für ein gemeinsames Vorgehen und spricht sich gegen "verschiedene Geschwindigkeiten" aus. Widerstand kommt vor allem von Polen und einigen andere Osteuropäern. Die baltischen Länder und Skandinavien dagegen haben angesichts der Bedrohung durch Russland großes Interesse, die Verteidigung schnell auszubauen.
Auch hier hat Frankreichs Präsident Macron seine Position bereits im Vorfeld klar gemacht; er kritisierte indirekt Polen und Ungarn. "Manche politische Führer aus Osteuropa" würden eine zynische Herangehensweise gegenüber der EU offenbaren. Die Europäische Union diene ihnen dazu, "Geld zu verteilen - ohne ihre Werte zu respektieren." Europa sei aber kein Supermarkt, sondern eine Schicksalsgemeinschaft, so Macron.
Einig ist die EU gegenüber Donald Trump: Eine Neuverhandlung des Pariser Klimaabkommens lehnt sie rundweg ab. Und beim Dauerbrenner Migration ist es bemerkenswert still. Es gibt keinen Fortschritt beim gemeinsamen Asylrecht und schon gar nicht bei der Umverteilung der Flüchtlinge. Aber die Migration scheint den Mitgliedsländern im Augenblick kontrollierbar und sie planen weiterhin eine Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern wie Libyen. Den Grundsatzstreit klammern sie scheinbar aus.
Brexit als Nachspeise
Zum Nachtisch beim Abendessen am Donnerstag möchte Theresa May ihren Kollegen dann ihre Brexit-Pläne vortragen - soweit vorhanden. Erwartet wird, dass sie zumindest einen konkreten Vorschlag macht, wie sie sich eine wechselseitige Lösung für die Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien vorstellt beziehungsweise für Briten auf dem Kontinent. Das Thema steht auf der Tagesordnung der Verhandlungen ganz oben.
"Es wird auf dem Gipfel mehr um Überschriften gehen", dämpfte ein hoher EU-Diplomat die Erwartungen. Aber hier zählen die Details: Was ist der Stichtag, was gilt für Familienmitglieder, welche Gerichte entscheiden bei Streitfällen? Die Premierministerin will auf keinen Fall Urteile des Europäischen Gerichtshofes anerkennen, schließlich sei man dann "ein Drittstaat". Allein das birgt viel Konfliktstoff. Am kommenden Montag sollen Einzelheiten veröffentlicht werden.
Geschacher um das Erbe der Briten
Auch dieser Gipfel wird nicht ohne Zank verlaufen. Diesmal geht es um die neuen Standorte für die EU-Agenturen, die nach dem Brexit aus Großbritannien abgezogen werden. Wien, Barcelona und Budapest werben massiv um die 890 Mitarbeiter der Arzneimittelagentur EMA. Eine solche EU-Behörde bringt nicht nur Prestige, sondern auch Einnahmen und fördert die Infrastruktur. Deutschland hat Bonn als Sitz nominiert - eigentlich wirft fast jeder Mitgliedsstaat seinen Hut in den Ring. Das gleiche gilt für die Europäische Bankenaufsicht. Frankfurt sieht sich prädestiniert, Paris bewirbt sich, ebenso Mailand und so weiter. Hier wird um das Fell des Bären gestritten, das Erbe der Briten nach dem Brexit.
Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen nun bei diesem Treffen wenigstens ein Verfahren für die Entscheidungsfindung festlegen. Es ist ein bisschen wie beim European Song Contest: In einer Vorentscheidungsrunde sollen die Mitgliedsländer sechs Stimmen für je drei Standorte vergeben und die drei Sieger kommen dann in die Ausscheidungsrunde. Aber schon dieser Vorschlag ist höchst umstritten. Auch wird erwartet, dass osteuropäische Länder sich zusammenschließen und dass taktische Erwägungen mitspielen. Dieser Zank unter europäischen Brüdern und Schwestern dürfte in der Gipfelnacht bei weitem die längste Zeit in Anspruch nehmen.