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Glück im Unglück für die Türkei

12. Juni 2011

Die Partei des türkischen Regierungschefs Erdogan hat bei der Parlamentswahl die absolute Mehrheit erreicht, das Ziel einer Zwei-Drittel-Mehrheit aber verfehlt. Glück im Unglück, meint Baha Güngör in seinem Kommentar.

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Schriftzug Kommentar (Grafik: DW)
Bild: DW

Die pluralistische Demokratie hat bei den Parlamentswahlen in der Türkei knallharte Fakten geliefert: Rund 50 Prozent Stimmenanteil für die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ist ein Ergebnis, das über jeden Zweifel erhaben ist. Und auch die Wahlbeteiligung von über 84 Prozent bestätigt die demokratische Legitimation des AKP-Erfolgs.

Damit hat die AKP zum dritten Mal hintereinander allen Herausforderern die Fersen gezeigt und ihren prozentualen Stimmenanteil erheblich ausgebaut: 2002 waren es noch rund 34 Prozent, vor vier Jahren dann 46,5 Prozent und nun sogar mehr als 50 Prozent.

In den Staubwolken der davongaloppierenden AKP bleiben die Ergebnisse der sozialdemokratisch-kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) mit rund 25 Prozent und der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) mit rund 13 Prozent recht blass. Beachtlich hoch ist hingegen die Zahl der unabhängigen Kandidaten, die den Sprung ins Parlament geschafft haben und mehrheitlich von der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) unterstützt werden: Sie nehmen 35 Sitze ein. Zu ihnen gehören auch einige noch inhaftierte Erdogan-Kritiker, die keine Kurden sind und wegen der angeblichen Unterstützung von Putsch-Plänen auf ihre Prozesse warten.

Erfolg basiert auf wirtschaftlichem Wachstum

Baha Güngör, Leiter der Türkischen Redaktion der DW (Foto: DW)
Baha Güngör, Leiter der Türkischen Redaktion der DW

Wo liegen die Gründe für Erdogans dritten Erdrutschsieg innerhalb von neun Jahren? Die Türkei erzielt seit Jahren traumhafte wirtschaftliche Wachstumsraten. Die Reformen, die das Ziel hatten, den NATO-Staat an die Werte und Normen der Europäischen Union heranzuführen, haben mit der geringer gewordenen Hoffnung auf einen EU-Beitritt an Tempo verloren. Positive Entwicklungen wie die Festigung individueller und institutioneller Freiheiten für alle Schichten sind gänzlich in den Hintergrund getreten.

Erdogans grandioser Erfolg ist ein Unglück für die Türkei. Er ist in den letzten Jahren zunehmend beratungsresistent geworden und scheut nicht einmal mehr davor zurück, seine Gegner quasi zu Staatsfeinden zu erklären. Das Glück im Unglück ist, dass seine AKP die Abgeordnetenzahl von 330 knapp verfehlte und somit die Verfassung nicht alleine - ohne Kompromisse mit der Opposition - beliebig ändern kann. So wird die von ihm anvisierte Umwandlung der Türkei in eine präsidiale Republik vorerst nicht möglich sein.

Es ist allerdings schon paradox, dass die Demokraten bei dieser Wahl mit den Rechtsextremisten bangten - und am Ende froh waren, dass die MHP die Zehn-Prozent-Hürde übersprungen hat. Denn wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte die AKP als stärkste Partei die meisten Sitze der MHP zugeschlagen bekommen und dann die zu Verfassungsänderungen im Alleingang notwendige Mehrheit bequem erreicht.

Sorge für die Zukunft

Und doch: Trotz klarer Mehrheitsverhältnisse kommen auf die Türkei schwere Zeiten zu. Der Druck der AKP-Schergen auf Andersdenkende wird sich erhöhen. Die Pressefreiheit wird weiter eingeschränkt und der Religion im Widerspruch zur säkularen Grundordnung der laizistischen Republik höhere Priorität eingeräumt. Damit wird die Türkei zu einer Kandidatin für die EU-Mitgliedschaft, die selbst die Argumente für ihre Ablehnung liefert.

Ohne eine Wende wird die AKP bei der nächsten Wahl in vier Jahren die diesmal knapp verfehlten Ziele erreichen. Es ist aber nicht damit zu rechnen, dass aus der Türkei ein Iran und aus Recep Tayyip Erdogan ein Mahmud Ahmadinedschad wird. Doch schon ein realistischerer Vergleich mit Russlands Wladimir Putin reicht aus, dass man mit Sorge in die Zukunft blickt.

Autor: Baha Güngör
Redaktion: Klaus Dahmann