Goethe-Gedicht "Wandrers Nachtlied" wird 240
5. September 2020Am Abend des 6. September 1780 saß Johann Wolfgang von Goethe gerade in einer kleinen Jagdhütte mitten im Thüringer Wald, als ihm die Hände zu kribbeln begannen. Kurzerhand schnappte er sich einen Bleistift und schrieb ein paar Zeilen an die Holzwand seiner Schlafstube. So sind - da ist sich die Wissenschaft heute einig - diese berühmten Verse entstanden:
Ueber allen Gipfeln
Ist Ruh',
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.
Harmonie von Mensch und Natur
Zu dieser Zeit machte Goethe viele Wanderungen rund um den Kickelhahn, einem Berg unweit von Ilmenau in Thüringen. Wohl überwältigt von der Schönheit und Ruhe, die er während dieser Ausflüge erlebte, verewigte er seine Gefühle in dieser besonderen Inschrift. Damals war Goethe 31 Jahre alt und arbeitete in dem nicht weit entfernten Weimar, wo er einer Tätigkeit als Beamter nachging. In dieser Zeit entstanden einige seiner wichtigsten Werke. Ein typisches Merkmal seiner Dichtkunst: die Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Die Texte behandeln die Erkenntnis des Menschen, dass er einen natürlichen Platz innerhalb der Schöpfung hat - auch nach dem Tod.
Während Goethe seine ersten Gedichte noch formlos schrieb, so besann er sich in seinen Weimarer Jahren immer mehr auf die antiken Ideale der Harmonie und Schönheit. Sein humanistisches Drama "Iphigenie auf Tauris" gestalteet er nach allen Regeln des schönen Dichtens der Antike. Dazu gehörte auch ein festes Reimschema, wie in "Wanderers Nachtlied" und auch wie in seiner berühmten Ballade "Der Erlkönig", die er kurz darauf im Jahr 1782 schreibt.
Vielfach vertont
Der Einfluss Goethes auf die deutsche Kultur und Literatur ist heute nicht mehr wegzudenken. In der Musik wurde "Wandrers Nachtlied" immer wieder neu vertont - die bekannteste Version ist die von Franz Schubert, der noch zu Goethes Lebzeiten eine passende Musik komponierte. Auch in den folgenden Jahrhunderten beriefen sich Künstler immer wieder auf Goethe - auf immer neue Weise. So wurde "Wandrers Nachtlied" zu einer beliebten Vorlage für Parodien. Beispielsweise schrieb Joachim Ringelnatz im Jahr 1920 in seinem Gedichtband Kuttel Daddeldu:
Drüben am Walde
Kängt ein Guruh –
Warte nur balde
Kängurst auch du.
Ob nun als Parodie oder Musikstück – der Goethekult in Deutschland und in der Welt hält an. Teil davon: die Jagdhütte im Thüringer Wald, zu der Goethe-Fans noch heute pilgern. Übrigens kehrte der 82-jährige Goethe im August 1831, ein halbes Jahr vor seinem Tod, genau zu dieser Hütte zurück. Wie sein Begleiter berichtete, flossen Goethe, als er die Verse las "Tränen über seine Wangen und er sprach in sanftem, wehmütigen Ton: Ja, warte nur, balde ruhest du auch".