Salman Rushdies neuer Roman "Golden House"
5. September 2017Der Autor macht einen die Fatwa gegen ihn fast vergessen, so frei bewegt sich Salman Rushdie inzwischen in der Welt und vor allem durch New York, die Stadt in der er seit 17 Jahren lebt. Trotz der 4 Millionen US-Dollar, die auf seinen Kopf ausgesetzt sind, lässt er sich nur noch bei großen Auftritten von Personenschützern bewachen. Eine Vorsichtsmaßnahme gilt allerdings noch, die vor allem die Menschen, die mit ihm und für ihn arbeiten, Verleger oder Übersetzer, schützen soll: Seine neuen Bücher erscheinen immer gleichzeitig im englischen Original und in Übersetzungen - so wie an diesem Dienstag (5.09.2017) sein neuer Roman "Golden House".
Erzählt wird auf über 500 Seiten die Geschichte des steinreichen Bauunternehmers Nero Golden, der ausgerechnet am Tag der Amtseinführung des Präsidenten - gemeint ist Obama - "wie ein ungekrönter König" mit seinen mutterlosen Söhnen in New York einzieht. Der alte Mann und seine Söhne fliehen vor der Vergangenheit. Die Tragödie eines Landes - Indiens - und einer Stadt - Mumbai - ist zu ihrer persönlichen geworden: Die Ehefrau und Mutter von zwei der jungen Männer fiel 2008 in einem Luxushotel dem kaltblütigen Anschlag islamistischer Attentäter zum Opfer. Wer sind diese Männer, die das größte aller Häuser im Macdougal-Sullivan Gardens Historic District beziehen, ein elegantes Haus im edelsten Straßenzug von Greenwich Village?
Antike Figuren im modernen Gewand
Chronist der Golden-Geschichte ist ein junger Filmemacher. "Nenn mich René", stellt sich der Erzähler vor. Der in einer behüteten Akademikerfamilie aufgewachsene Intellektuelle findet in den neu zugezogenen Nachbarn den Stoff für sein Drehbuch, nach dem er so lange gesucht hat. Sicherer Begegnungsraum ist der weitläufige, allen zugängliche Garten zwischen den Villen. "Ich schließe die Augen und lasse den Film in meinem Kopf abspulen. Ich öffne die Augen und schreibe es nieder."
Rushdie greift für seine Figuren tief in die Trickkiste der Erzählkunst. Der Ich-Erzähler wird selbst zunehmend zu einer Figur des Romans, wird vom Beobachter zum "Animateur", wie es schon früh im Text heißt. Golden und seine Söhne scheinen der griechisch-römischen Mythologie entsprungen als Figuren einer Tragödie oder eines Lustspiels. Sie haben für ihre Übersiedlung neue Namen gewählt: Nero, der Vater, der statt auf einer Leier wie einst der römische Kaiser den Untergang seines Hauses auf einer Guadagnini-Geige begleitet. Der grüblerische, gehandicapte Petronius, der zweitgeborene Lucius Apuleius, Künstler und Müßiggänger, und der mit seiner Gender-Identität kämpfende Dionysos. Ohne "den hohen Ton der antiken Tragödie" heißen sie im amerikanischen Alltag schlicht Petya, Apu und D.
Fakten und Mythologie vereinigen sich
"Mein bevorzugter Stil sollte etwas sein, das ich für mich Opernhaften Realismus nannte", dieser Satz des Ich-Erzählers findet sich früh im Roman, und er ist programmatisch. Rushdies Buch hat viele, ineinanderfließende Ebenen. Faktenbasierter Stoff findet seine erzählerische Form ebenso wie literarische Anspielungen, Auszüge aus Filmskripten, märchenhafte Fiktion, mythologische Szenerien. Rushdies Text ist formal ausschweifend, ein Vexierspiel der Tonlagen: Er kommt als Kriminalroman daher mit lustvoll banalen Cliffhangern am Ende mehrerer Kapitel, etwa von der Güte wie "In solchen Momenten mag ein Mann über Mord nachdenken."
Dann wieder ist der Erzählton heiter, witzig, burlesk. Gelegentlich nimmt er Anleihen bei der Mythologie, wird schwermütig oder märchenhaft. Dann wieder tendiert er zum sachlich-realistischen Bericht, kommentiert das Zeitgeschehen. Geradezu überschäumend virtuos führt der Autor seine Zeugen auf: Tintin, Buñuel oder Thomas Mann, Nietzsches Übermenschen, Dr. Mabuse, Bob Dylan und G. K. Chesterton - das Kino, die Literatur, die Popkultur. Rushdie ist in vielen Welten zuhause und er spielt grandios mit dem Leser.
Was ist Wahrheit, und wer sind wir?
Auf diese Weise stößt er ihn auf das unterliegende Thema seines Epos: "In unserem Zeitalter von hart umkämpften Realitäten ist es nicht leicht, sich darauf zu einigen, was tatsächlich geschieht oder geschehen ist, was zutrifft, geschweige denn, welche Moral oder Bedeutung diese oder jene Geschichte hat." Dieses Zitat aus dem Roman liest sich wie ein Autorenkommentar, vor allem, wenn man die Interviews, die der Autor derzeit zu seinem neuen Buch gibt, danebenstellt: "Eines der Dinge, die sich gerade abspielen in diesem Land (Anm. d. Red.: Gemeint sind die USA), ist, dass Worte ihrer Bedeutung beraubt werden. Die Lügner beschuldigen die Menschen, die die Wahrheit sagen, dass sie Fake News verbreiten. Alles wird auf den Kopf gestellt", sagte Rushdie dem Ersten Deutschen Fernsehen.
Denn die Erzählung der privaten Tragödie der Familie Golden ist eingebettet in die der jüngsten amerikanischen Geschichte der acht Jahre von Obamas Amtsantritt bis zur Wahl Trumps. Trump, der nicht namentlich genannt wird, ist im Roman durch die den Batman-Comics entlehnte Figur eines nicht orange-, sondern grünhaarigen bösen Jokers verkörpert. "Ich wollte, dass die gesellschaftliche Tragödie einer großen Nation, die dabei ist, selbst ihre Identität zu verlieren, die persönliche umschließt, sozusagen eine Tragödie innerhalb der Tragödie schreiben", erklärte Rushdie. "Die Frage ist die Frage nach dem Bösen", heißt es im ersten Teil des Romans; später fragt er nach der Natur des Guten. Korrumpiert das Böse zwangsläufig das Gute – so wie die die Mafia-Verbindung Goldens neues Leben?
Die Moral der Fantasie
Oder kann das Böse sich zum Guten verkehren? Die junge Russin Vasilisa Arsenyeva stammt aus Sibirien und besitzt eine Zauberpuppe, die sie gegen die böse Hexe Baba Jaga schützt. Oder hat die hässliche alte Hexe Vasilisa doch verschlungen und dadurch die Schönheit des jungen Mädchens erlangt? Mit dieser schillernden, doppelgesichtigen Figur könnte das Prinzip Hoffnung im Roman vertreten sein. Nero Golden, ein moderner Gatsby, scheitert. Die Kraft der Fantasie aber wirkt nach - und das macht die Kunst eines großen Erzählers aus.
Salman Rushdie: Golden House. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Herting. C. Bertelsmann, München 2017. 512 S.