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Wahlkampf gegen Zuwanderer

Barbara Wesel 20. November 2014

Die Nachwahl in der Kleinstadt Rochester wäre unbedeutend, stünde sie nicht für einen Rechtsruck in der britischen Politik. Nötig wurde sie, weil ein Tory-Abgeordneter die Seiten gewechselt hat.

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Nigel Farage Mark Reckless unterhalten sich (Foto: Getty Images/S. Plunkett)
UKIP-Parteichef Nigel Farage (l.) beim Wahlkampf mit Neuzugang Mark RecklessBild: Reuters/S. Plunkett

Einen Tag vor Öffnung der Wahllokale schoss der Kandidat, wohl in einer Art vorgezogenem Siegestaumel, schließlich übers Ziel hinaus. Im Radiointerview danach befragt, ob alle Zuwanderer aus Osteuropa nach einem Austritt Großbritanniens aus der EU nach Hause geschickt würden, sagte Mark Reckless von der UK Independence Party (UKIP): "Wir brauchen eine Art Übergangsperiode und wir sollten Leuten, die derzeit da sind, zumindest eine Arbeitserlaubnis für einen bestimmten Zeitraum geben" - was heißt, dass sie nach deren Ablauf dann wohl in ihre Heimatländer zurückgeschickt würden. Das müsste zum Beispiel für rund 700.000 Polen gelten, die zum großen Teil seit Jahren auf der britischen Insel leben.

Das seien rechtsradikale Äußerungen, schimpfte nicht nur die oppositionelle Labour Party, es gab einen regelrechten Medien-Sturm. Und der UKIP-Vorsitzende Nigel Farage musste schnell zurückrudern: Man habe dem Kandidaten zu viele Fragen gestellt. Er sei verwirrt gewesen. Die Partei wolle keinesfalls alle EU-Migranten nach Hause schicken, nur den Zustrom von weiteren Migranten stoppen. So extrem wollte der Parteichef seine Politik denn doch nicht ausgelegt sehen, obwohl ihm die Parolen gegen Europa und gegen Zuwanderer in letzter Zeit einen verblüffenden politischen Höhenflug bescheren. Denn seit die Umfragen UKIP bei der Nachwahl im ostenglischen Städtchen Rochester einen deutlichen Sieg und damit einen zweiten Abgeordneten im Unterhaus vorhersagen, beherrscht der dortige Wahlkampf die Schlagzeilen der britischen Presse, denn sie sieht diese Nachwahl zum Unterhaus als Test für die Zukunft der Parteienlandschaft.

Wahlerfolg für den Überläufer

Was die Geschichte noch pikanter macht, ist, dass Kandidat Mark Reckless ein Überläufer von den Konservativen ist und damit selbst die Nachwahl ausgelöst hat. Als der frühere Tory-Abgeordnete just zu Beginn der jährlichen Parteikonferenz der Konservativen im September plötzlich die Seiten wechselte, nannte Parteichef David Cameron ihn in seiner Wut einen "dicken Arsch". Aber alle Beschimpfungen des Abgeordneten durch seine früheren Parteifreunde als "unmoralischer Deserteur, Heuchler und haltloser Opportunist" konnten seinen Vormarsch als Kandidat für UKIP im eigenen Wahlkreis nicht aufhalten. Jetzt wird er ihnen in Rochester, bisher fest in konservativer Hand, voraussichtlich eine weitere Niederlage bescheren.

David Cameron am Rednerpult (Foto: Reuters)
David Cameron beim Konservativen-ParteitagBild: Reuters

Und bei der großen Regierungspartei geht die Angst um. Denn es scheint, als ob die Strategie von Premier David Cameron nicht aufgeht, und ein Sieg bei den Parlamentswahlen im nächsten Frühjahr immer zweifelhafter wird. Schon im Winter vorigen Jahres hatte Cameron damit begonnen, die Europaskeptiker auf dem rechten Flügel seiner eigenen Konservativen zu umarmen, um damit gleichzeitig die Erfolgsserie von UKIP zu stoppen. In seiner Europarede im Februar kündigte der Regierungschef zunächst an, er wolle nach einem Wahlsieg 2015 ein Referendum über die britische Mitgliedschaft in der Europäischen Union abhalten, und vorher die Bedingungen dafür neu verhandeln. Da Großbritannien seit langem ein eher zögerliches Mitglied ist, und sogenannte Opt-outs als Ausnahmeregelungen längst zum Alltag der Brüsseler Verhandlungen gehören, hielt sich der Schock im Rest Europas zunächst in Grenzen.

Ein älterer Herr läuft mit dem Schild "Vote UKIP" durch eine menschenleere Straße (Foto: Getty Images/P. Macdiarmid)
UKIP verdirbt den Konservativen die Chancen bei der nächsten UnterhauswahlBild: Getty Images/P. Macdiarmid

Cameron pokert mit Großbritanniens EU-Mitgliedschaft

Nach den Wahlerfolgen von UKIP bei der letzten Europawahl aber, wo die EU-Gegner die meisten Sitze errangen und die Konservativen auf den dritten Platz verwiesen, versucht Cameron die populistischen Forderungen der Partei quasi rechts zu überholen. In den vergangenen Monaten drehte sich der Kampf um die Lufthoheit in den britischen Pubs vor allem um das Thema Zuwanderung. Cameron versprach, sie drastisch einzuschränken, trat Kampagnen los gegen Rumänen und Bulgaren auf Arbeitssuche in Großbritannien, und spitzte seine Anti-Europa-Rhetorik immer mehr zu. Sein jüngst beim EU-Gipfel zelebrierter Wutausbruch wegen Nachzahlungen in den europäischen Haushalt passt ebenfalls ins Schema.

Der Regierungschef versucht alles, um seinen Bürgern zu zeigen, wie europakritisch er ist - zuletzt, indem er eine Art Moratorium oder eine Quotenregelung für Zuwanderer aus EU-Mitgliedsländern verlangte. Bundeskanzlerin Angela Merkel aber, von der sich Cameron stets Unterstützung erhofft hatte, erteilte ihm umgehend eine Abfuhr: An der Freizügigkeit werde nicht gerüttelt. Daraufhin warb der frühere konservative Premier John Major in Berlin noch einmal um Verständnis für die britische Position. Eine deutsche Parlamentarier-Gruppe wiederum bekräftigte in London die deutsche Haltung. Zwar hat Berlin stets betont, man sei sehr am Verbleib der Briten in der EU interessiert, inzwischen aber stehen sich die pro-europäische deutsche Regierung und die mehr und mehr EU-skeptische Führung Großbritanniens zunehmend konträr gegenüber. David Cameron setzt die Mitgliedschaft seines Landes in der Europäischen Union als Karte im Poker um den Machterhalt in London ein, und die Nachwahl in der kleinen Landstadt Rochester könnte für die britischen Konservativen spielentscheidend werden.

Angela Merkel und David Cameron unterhalten sich (Foto: picture-alliance/abaca)
Angela Merkel widerspricht neuerdings David Camerons EuropapolitikBild: picture-alliance/abaca