Grüne: Parteispitze gibt auf, Jugend-Vorstand tritt aus
26. September 2024Der Vorstand der Grünen Jugend wird die Partei verlassen. Das kündigten die Vorsitzenden der Nachwuchsorganisation, Svenja Appuhn und Katharina Stolla, am Mittwochabend an. Das Schreiben liegt der Nachrichtenagentur AFP nach eigenen Angaben vor. Der Austritt wird damit begründet, dass Politik "nur noch von rechts getrieben" werde. Die Konflikte zwischen Partei und Grüner Jugend hätten sich in den letzten Jahren immer weiter zugespitzt.
Appuhn und Stolla verweisen beispielhaft auf das Sondervermögen für die Bundeswehr nach dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine, Verschärfungen im Asylrecht oder die Räumung der Ortschaft Lützerath im nordrhein-westfälischen Braunkohle-Revier.
Vorstand der Grünen Jugend vermisst linke Opposition
In Ermangelung einer hörbaren linken Opposition im Bundestag habe die Grüne Jugend sich "zunehmend in der Rolle einer öffentlichen linken Opposition gesehen", erläutern Appuhn und Stolla ihre Beweggründe. Die beiden wollen nun einen "dezidiert linken Jugendverband" gründen. "Wir machen allen ein Angebot, mit uns an einem anderen Ort Politik zu machen."
Mit dem Austritt des Führungsduos der Grünen Jugend spitzt sich die Krise der Partei weiter zu. Kurz vorher hatten die Bundesvorsitzenden der Grünen, Ricarda Lang und Omid Nouripour, ihren Rücktritt angekündigt. Die Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Katharina Dröge, hat kein Verständnis für den Schritt ihrer jüngeren Kolleginnen und Kollegen. Sie hätte ihnen geraten, zu bleiben für eine andere Politik zu werben, sagte Dröge im öffentlich-rechtlichen "Deutschlandfunk".
Auf der Suche neuen Führungskräften
Die Grünen-Fraktionschefin war zur Zeit der Koalition aus Grünen und Sozialdemokraten (SPD) unter Bundeskanzler Gerhard Schröder Vorsitzende der Grünen Jugend. "Ich selbst habe es damals so gehandhabt, dass ich durchaus kritisiert habe, was Rot-Grün gemacht hat, aber immer dafür gekämpft habe, dass sich auch Dinge aus meiner damaligen Perspektive ändern", sagte Dröge.
Die Grünen müssen nun in kurzer Zeit auf mehreren Ebenen wichtige Personalentscheidungen treffen. Im Oktober findet in Leipzig (Sachsen) der Bundeskongress der Jugend-Organisation statt. Motto: "Schluss mit Krise – Holen wir uns die Zukunft zurück!" Und im November folgt der Grünen-Parteitag in Wiesbaden (Hessen).
Noch schärfer kritisierte die Bundestagsabgeordnete und frühere Landwirtschaftsministerin Renate Künast den abtrünnigen Vorstand der Grünen Jugend: "Da wundere ich mich nicht und da weine ich auch nicht", sagte sie im "Inforadio" des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB). Für ihre Begriffe sei der Vorstand "nicht realitätstauglich" gewesen und habe "einen Klassensystem-Sozialismus aufbauen" wollen, meint Künast.
Eine Wahlniederlage nach der anderen
Inhaltlich wird es um die Aufarbeitung der Serie von Niederlagen bei Wahlen und das insgesamt schlechte Erscheinungsbild gehen. Jüngste Schlappe war die Landtagswahl in Brandenburg am 22. September, bei der die Grünen an der in Deutschland geltenden Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Das Gleiche war ihnen schon Anfang September in Thüringen passiert. Lediglich in Sachsen, wo ebenfalls ein neues Landesparlament gewählt wurde, sind sie noch drin.
Besonders bitter aus Sicht der Grünen: In den drei Bundesländern waren sie bislang an der Regierung beteiligt. Mehr denn je stellt sich nun die Frage, wie es mit der Bundesregierung weitergehen wird. Das Bündnis aus Sozialdemokraten (SPD), Freien Demokraten (FDP) und Grünen steckt in einer Dauerkrise. Das wegen der Parteifarben Rot, Gelb und Grün als Ampel-Koalition bezeichnete Trio streitet sich unablässig.
Überall Streit: Waffenlieferungen, Schuldenbremse, Klimapolitik
Gestritten wird über Waffenlieferungen an die Ukraine im Krieg gegen den Aggressor Russland, über die in der deutschen Verfassung festgeschriebene Schuldenbremse, Klima- und Sozialpolitik. Vor diesem Hintergrund spricht der sich nun zurückziehende Grünen-Chef Nouripour von der "tiefsten Krise unserer Partei seit einer Dekade".
Es gehe nicht um das Schicksal einer Partei, betont der 1988 als 13-Jähriger aus dem Iran nach Deutschland gekommene Grünen-Politiker. Er stellt sich jetzt die Frage, ob in dem Land mit der größten Verantwortung in der Europäischen Union in Zukunft noch "gute Politik" möglich sei. "Für Frieden, für Freiheit, für Gerechtigkeit, für Wohlstand und für Klimaschutz."
Sorgenvoller Blick auf die Bundestagswahl 2025
Nouripours bisherige Vorstandskollegin Lang bezeichnet den gemeinsamen Rückzug von der Grünen-Spitze als möglichen Baustein für die strategische Neuaufstellung der Partei. Dabei blickt sie schon auf die Bundestagswahl im September 2025. "Wir entscheiden darüber, wie sich Deutschland in Zukunft entwickelt. Und ein bisschen entscheiden wir auch darüber, was dieses Land eigentlich sein will."
Lang sieht Deutschland am Scheideweg: "Ein Land, in dem wir bei der Klimaneutralität Kurs halten, unseren Wohlstand und Zusammenhalt schützen – heute und morgen. Oder ein Land, in dem sich die durchsetzen, die bei all dem nur Rückschritt wollen." Welche Parteien und Personen sie damit meint, lässt Lang offen.
Grüne auf der Suche nach ihrer Rolle im Parteiensystem
Um ihre eigene Partei macht sie sich angesichts der Serie von Wahlschlappen und des schlechten Erscheinungsbildes der Bundesregierung große Sorgen: Man entscheide auch darüber, welche Rolle die Grünen in Zukunft in einem Parteiensystem einnehmen werden, das sich gerade fundamental verändere. "Wie wir es in vielen anderen europäischen Ländern schon gesehen haben."
Diese Entwicklung war schon bei der Europawahl im Juni zu beobachten. Stark rechtsgerichtete Parteien waren sehr erfolgreich. Die deutschen Grünen hingegen mussten herbe Verluste hinnehmen. Ihr Stimmenanteil wurde von 20,5 im Jahr 2019 auf nun 11,9 Prozent fast halbiert. Lang und Nouripour haben aus diesem seit Monaten anhaltenden Abwärtstrend ihre Konsequenzen gezogen.
Robert Habeck: "Wir tragen hier alle Verantwortung"
Welche Folgen das für die Bundesregierung haben könnte, darüber wird nun überall spekuliert. Neben Außenministerin Annalena Baerbock ist Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck das bekannteste Gesicht der Grünen. "Hinter uns liegen harte Monate, die Grünen standen voll im Gegenwind", sagt Habeck. Die Niederlagen bei den letzten Wahlen seien unstrittig vom Bundestrend beeinflusst. "Wir tragen hier alle Verantwortung, auch ich. Und auch ich will mich ihr stellen."
Allgemein wird damit gerechnet, dass die Grünen noch vor ihrem Parteitag darüber entscheiden, ob sie bei der Bundestagswahl 2025 einen Kanzlerkandidaten ins Rennen schicken oder nur mit einem Spitzenkandidaten antreten. Angesichts miserabler Umfragewerte könnte die Wahl eines Kanzlerkandidaten realitätsfremd wirken.
Annalena Baerbock wollte 2021 Bundeskanzlerin werden
Im aktuellen Deutschlandtrend kommen die Grünen nur noch auf elf Prozent. An der Spitze liegen die Christdemokraten (CDU) und ihre bayrische Schwesterpartei CSU mit 33 Prozent. "Ich möchte auf dem Parteitag eine offene Debatte zu einer möglichen Kandidatur und ein ehrliches Votum in geheimer Wahl", sagt Habeck zu seinen Ambitionen. Bei der Bundestagswahl 2021 war Außenministerin Baerbock als Kanzlerkandidatin ins Rennen gegangen. Am Ende siegte die SPD und Olaf Scholz wurde Regierungschef.
Dass die Turbulenzen bei den Grünen Auswirkungen auf die Koalition haben könnte, hält der Bundeskanzler für ausgeschlossen. Laut Regierungssprecher Steffen Hebestreit bedauert Scholz den Rückzug Langs und Nouripours. Er habe mit ihnen "eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet". Aber es gehöre in demokratischen Verfahren dazu, dass es auch mal Wechsel in Parteiführungen gebe.
Erklärungsversuche für Misserfolge der Grünen
Analysten wie der Aachener Politikwissenschaftler Emanuel Richter fragen sich allerdings, welches Signal vom Rückzug der Grünen-Spitze ausgesendet werden solle. "Denn es ist ja nicht so, dass die Misserfolge an dem Duo lagen, das die Partei geführt hat", meint Richter im Gespräch mit dem öffentlich-rechtlichen TV-Sender "Phoenix".
Haben die Grünen ein Kommunikationsproblem?
Eher liege es an der Programmatik der Grünen und ihrer Art der Kommunikation, vermutet der Experte. Beispielhaft nennt er das sogenannte Heizungsgesetz der Bundesregierung, das federführend von Wirtschaftsminister Habeck erarbeitet wurde. Die damit geplante schrittweise Umstellung von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien haben in der Bevölkerung und in der Wirtschaft für große Verunsicherung gesorgt.
Das sind die Punkte, wo die Grünen nachbessern und aus dieser Wahrnehmung herauskommen müssen, sie seien eine Verbotspartei, die rigide ihre ideologische Politik umsetzt und nicht auf Misserfolge und auf Rahmenbedingungen achtet", empfiehlt Richter.
Dieser Artikel wurde in seiner ursprünglichen Fassung am 25.09.2024 veröffentlicht und nach dem angekündigten Rücktritt des Vorstands der Grünen Jugend am 26.09.2024 aktualisiert.