Grünen-Politiker in der Türkei angeklagt
10. September 2019Vier Jahre und acht Monate Haft ist die Höchststrafe für Präsidentenbeleidigung in der Türkei. Jedes Jahr gibt es Tausende Ermittlungsverfahren. Nun hat es mit dem Grünen Memet Kilic einen deutschen Politiker getroffen. Die Oberstaatsanwaltschaft in Ankara stuft in ihrer Anklageschrift, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, mehrere Aussagen von Kilic in einem Interview mit der türkischen Internetzeitung "ABC Gazetesi" aus dem Juli 2017 als beleidigend für das Staatsoberhaupt ein.
In dem Interview hatte Kilic unter anderem gesagt: "Der Schaden, den Erdogan der Türkei zugefügt hat, ist untragbar." Und weiter: "Ich bin als Politiker mit türkischen Wurzeln sehr traurig darüber, dass mein Land in diese Lage gebracht wurde und bezeichne diejenigen, die es in diese Lage gebracht haben, als Vaterlandsverräter." Die Anzeige hatte das Rechtsbüro des Generalsekretariats im Präsidialamt erstattet. Erdogan ist in der Klageschrift als Geschädigter aufgeführt.
Kilic (52), der die deutsche und die türkische Staatsbürgerschaft hat, gehörte von 2009 bis 2013 dem Bundestag an und arbeitet heute als Anwalt in Heidelberg. Er ist aber weiterhin politisch aktiv, unter anderem als Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Migration und Integration der Grünen Baden-Württemberg. Kilic ist nach eigenen Angaben in Karlsruhe und Ankara als Anwalt zugelassen.
Von der Anklage habe er vor einem Monat erfahren, weil sie einem in der Türkei lebenden Neffen zugestellt worden sei, sagte Kilic der dpa. Er selbst sei wegen möglicher Repressalien seit drei Jahren nicht in die Türkei gereist. "Dieses Regime versucht mich mundtot zu machen", sagte er. Dass mit ihm nun ein Politiker wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt wird, hat für ihn eine neue Dimension. "Das ist auf jeden Fall eine neue Eskalationsstufe aus meiner Sicht. Mir ist nicht bekannt, dass schon einmal ein deutscher Politiker in der Türkei angeklagt wurde."
Immer mehr Anklagen
Kilics Anwalt Veysel Ok sprach von einer Krise, "in der generell Menschen mit türkischen Wurzeln ihr Recht auf Meinungsfreiheit nicht ausüben können". Er sagte der dpa: "Sowohl nach der türkischen Verfassung als auch der Europäischen Menschenrechtskonvention sind die Grenzen der Kritisierbarkeit für jemanden, der den Titel eines Präsidenten innehat, weiter als bei normalen Bürgern." "Politische Kritik" an Erdogan als Beleidigung zu werten, widerspreche "sogar dem eigenen, regionalen Gesetz in der Türkei".
Jedes Jahr gibt es Tausende ähnliche Fälle. Die Zahl der Klagen wegen Präsidentenbeleidigung habe zugenommen, seit Erdogan Präsident sei, sagte Ok. "Das war nicht immer so. Die letzten zwei Präsidenten, Ahmet Necdet Sezer und Abdullah Gül, haben zwar ebenfalls von diesem Artikel Gebrauch gemacht, aber keiner in dieser Intensität und in diesem unendlichen Ausmaß."
Unter den Betroffenen sind ganz normale Bürger, Journalisten oder Oppositionspolitiker. Den Chef der Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, traf es so oft, dass seine Kollegen zu Jahresanfang beschlossen, Geld zu sammeln, um mit den Strafen zu helfen. Aber auch Deutsche geraten wegen Äußerungen zu Erdogan immer wieder ins Visier.
Der jüngste bekanntgewordene Fall ist eine weitere Klage gegen die in der Türkei bereits wegen Terrorvorwürfen verurteilte Kölner Sängerin Hozan Cane (Künstlername). Die nächste Verhandlung ist ihrer Anwältin zufolge für den 16. September angesetzt. Anlass der Klage sei eine Karikatur von Präsident Erdogan, die jemand auf einer Facebook-Seite mit Canes Namen geteilt habe.
Canes Tochter Gönül Örs war am Montag nach Wochen unter Ausreisesperre wegen Terrorvorwürfen in der Türkei ebenfalls verhaftet worden. Ihr werde vorgeworfen, einen illegalen Grenzübertritt versucht zu haben, wie ihre Anwältin sagte.
Auch ein deutscher Mitarbeiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul ist wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt. Aret D., der am 8. Oktober wieder vor Gericht muss, hatte der Anklageschrift zufolge im Juni 2018 in einem Tweet das Wort "Ober-Dieb" (bascalan) benutzt. Im April war ein Mann aus Braunschweig wegen Präsidentenbeleidigung auf Facebook zu zehn Monaten Haft verurteilt worden, die Strafe wurde aber zur Bewährung ausgesetzt.
Das Auswärtige Amt mahnt bereits seit längerem in seinen Reisehinweisen für die Türkei zur Vorsicht: "Festnahmen und Strafverfolgungen deutscher Staatsangehöriger erfolgten vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien", heißt es dort. Ausreichend sei im Einzelfall das Teilen oder "Liken" eines fremden Beitrags entsprechenden Inhalts.
Memet Kilic ist für Dezember zu einer Anhörung in Ankara geladen. Ob er den Termin wahrnimmt, hat er noch nicht entschieden. "Ich spiele mit dem Gedanken dort hinzureisen, und meine Meinung zu sagen", sagt er. Er sei sich aber auch bewusst, dass er möglicherweise festgenommen werden könnte.
stu/as (dpa)