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Grass: "Auch Hunger ist Krieg"

Mohamed Massad29. Mai 2006

Der 72. Internationale PEN-Kongress tagte in Berlin unter dem Motto "Schreiben in friedloser Welt". Schriftsteller und Nobelpreisträger Günter Grass zieht im Interview mit DW-WORLD.DE Bilanz.

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Günter GrassBild: picture-alliance/ dpa

DW-WORLD.DE: Zum dritten Mal tagte der International PEN-Kongress in Deutschland. Was bedeutet das für Deutschland?

Günter Grass: Ich bin bei den letzten beiden Treffen dabei gewesen, auch in Hamburg vor 20 Jahren und habe jeweils das Einleitungsreferat gehalten - beide Male unter völlig anderer politischer Konstellation. Vor 20 Jahren war das Land noch geteilt, wie ganz Europa geteilt war. Ein Teil der Diskussionen war noch vom Ost-West Gegensatz bestimmt. Nur langsam zeichnete sich ab, was zum Beispiel Willy Brandt gesagt hat, dass das Problem des 21. Jahrhunderts nicht mehr der Ost-West–, sondern der Nord-Süd-Konflikt sein wird. In der jetzigen Situation kommt mir das Internationale, ja das Globale des PEN viel deutlicher zur Erscheinung, als es vor 20 Jahren der Fall gewesen ist.

Wie beurteilen Sie das Thema des Kongresses?

Muhamed Massad im Gespräch mit Günter Grass
Mohamed Massad im Gespräch mit Günter GrassBild: DW

Ich bin bei meinem Referat davon ausgegangen, dass wir immer friedlose Zeiten gehabt haben - mal weniger, mal stärker wahrnehmbar. Und dass wir hier in Europa der Meinung waren, nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa sei der Frieden ausgebrochen - bis dann der Serbien-Konflikt ausbrach. Wir lebten hier aufgrund der wechselseitigen Abschreckung der beiden Mächte, des Ostens und des Westens, es waren Zeiten der atomaren Abschreckung. Es war ein Scheinfrieden, während auf der ganzen Welt Stellvertreterkriege geführt wurden. Ich versuchte, in meiner Rede deutlich zu machen, wie dieser friedlose Zustand sich über die Zeiten hinweg fortgesetzt hat, und dass es noch andere Möglichkeiten gibt. Zum Beispiel durch das Beherrschen der Nahrungsmittelindustrie. Es gibt amerikanische Konzerne, die beherrschen das Saatgetreide. Mittlerweile sind sie in der Lage, mit Saatgut, das nur für eine Ernte taugt, ganze Völker in Abhängigkeit zu bringen. Das ist ein Standpunkt, auf den mich auch ein Politiker wie Willy Brandt, den ich sehr verehrt habe, aufmerksam gemacht hat, indem er gesagt hat, auch Hunger ist Krieg. Es ist nicht nur die Waffengewalt, die darstellbar ist, die sich in der Literatur oft niederschlägt, es sind diese leisen schrecklichen Vorgänge, die sich im Hunger niederschlagen, der weltweit zugenommen hat, in einer im Grund von der Möglichkeit her reicher gewordenen Welt.

Kann Literatur Frieden stiften?

Wir sollten uns nicht überheben. Wir haben Möglichkeiten, langfristig Veränderungen herbeizuführen im Bewusstsein der Menschen. Ich nehme als Beispiel gerne den Prozess der Aufklärung in Europa: Nicht nur die Autoren der Aufklärung, ob Voltaire oder Diderot, wurden sofort unter Zensur gestellt. Ihre Bücher haben sich erst nach einer großen Zeitpause durchgesetzt: in unterschiedlichen Ländern und Regionen jeweils sehr unterschiedlich. In manchen Regionen Europas ist die Aufklärung bis heute noch nicht angekommen. Es ist ein sehr langsamer Prozess, der Veränderungen bewirkt, aber mit der Zielsetzung, Dinge zu verbessern. Ich bin sehr misstrauisch: Zumeist sind das Ideologen, die auftreten und sagen, am Ende gibt es ein Endziel: der befriedete Mensch, der sozialistische Mensch, der "American way of life", also eine Glücklichmachung durch Konsum - all das halte ich für ideologische Verstellung, an der ich mich nicht festhalten möchte.

Erfüllen nach Ihrer Ansicht die Schriftsteller weltweit ihre Aufgaben?

Ich kann so etwas nicht pauschal beurteilen. Ich finde das großartig, dass es so etwas wie einen PEN gibt, dass es auch eine wechselseitige Fürsorge gibt, wie das "Writers in prison Programm". Allein das erklärt schon die Notwendigkeit des PEN-Club. Die Zahl der verfolgten Schriftsteller, der inhaftierten Schriftsteller, der getöteten Schriftsteller nimmt zu. Und wir wissen, dass die Versuche des PEN, oftmals auch gemeinsam mit Amnesty International, zur Befreiung, zur Erleichterung der Haft, zur Möglichkeit der Ausreise, erfolgreich sind. Auch Programme aufzulegen, wie es hier der PEN–Deutschland tut: dass Schriftsteller, die in ihrer Heimat verfolgt werden, hier unterkommen können, eine Art Stipendium erhalten, um hier Fuß fassen zu können. Das sind die Dinge der Solidarität. Ein altmodisches Wort, ich weiß, das aber nach wie vor seinen Sinn erfüllt. Ich glaube, dass diese Solidarität unter Schriftstellern nach wie vor wirkungsvoll ist.

Was ist mit den arabischen beziehungsweise islamischen Schriftstellern?

Ja, das trifft natürlich auch auf diese Autoren zu. Ich bin letztes Jahr zweimal im Jemen gewesen, habe mich dort mit arabischen Schriftstellern getroffen und dann festgestellt, dass die Probleme, die man heute in den arabischen Ländern hat, die Probleme sind, die wir in Europa als Schriftsteller im 19. und 18. Jahrhundert gehabt haben. Zum Beispiel die Forderung nach Trennung von Kirche und Staat, die es in den arabischen Ländern bis heute nicht gibt. In Europa ist das fast durchgesetzt, obgleich es auch hier Länder gibt, wo dies entweder rückläufig ist, oder noch nicht vollzogen. Ich habe gesehen, wie lange solche Prozesse dauern, und trotzdem wird natürlich in den arabischen Ländern die Forderung - und das ist unter anderem auch eine Aufgabe der Schriftsteller - nach einer Trennung von Kirche und Staat eine notwendige sein.

Deutschland ist Gastgeber, Schriftsteller aus aller Welt sind zu Gast. In Kürze ist die "Welt zu Gast bei Freunden". Aber hier sind viele Migranten, unter ihnen Schriftsteller, die sehr besorgt sind über die Zunahme des Rechtsradikalismus in Deutschland.

Politisch gesehen ist die radikale Rechte in Deutschland nach wie vor isoliert. Es gibt andere Länder - nehmen Sie Frankreich mit Le Pen, wo die rechtsradikale Partei in Regierungsgewalt ist, besonders in Südfrankreich. In Italien hat eine nachfaschistische Partei von Fini fast ein Jahrzehnt lang mit Berlusconi zusammen regiert, in Polen, schändlicherweise, wird die jetzige Regierung von zwei rechtsradikalen Parteien gestützt. Die NPD in Deutschland ist - außer für kurze Zeit in Landesparlamenten - nie im Parlament gewesen, nie regierungsbeteiligt. Dennoch haben wir natürlich einen Rechtsradikalismus, der sich auch gewalttätig zeigt. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Polizei, dagegen vorzugehen, das ist eine Frage der Mentalität in der Bevölkerung. Vor allen Dingen wird dieser brutale Rechtsradikalismus gefördert durch fahrlässige und demagogische Worte von Politikern. Wenn zum Beispiel Herr Stoiber in Bayern vor einer "Durchrassung" des deutschen Volkes warnt, ist das ein Vokabular, das im Grunde die Gewalttätigen unter den Rechtsradikalen ins Recht setzt.