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"Grauzone zum Kinderhandel"

25. Januar 2010

Vor allem Kinder leiden unter den Folgen des Erdbebens in Haiti. Viele stehen ganz allein da. Skrupellose Menschenhändler nutzen das aus. Darüber spricht DW-WORLD.DE mit UNICEF-Pressesprecher Rudi Tarneden.

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Bild: picture-alliance/ dpa/dpaweb

DW-WORLD.DE: Was haben Sie derzeit für Informationen über die Lage vor Ort?

Rudi Tarneden: Zunächst einmal muss man sich insgesamt klar machen, dass diese Katastrophe für Kinder unglaubliche Ausmaße hat. Für die Kinder ist die Welt zusammengestürzt, und man muss davon ausgehen, dass fast alle Kinder im Katastrophengebiet in irgendeiner Form unter Schock stehen, traumatisiert sind und sehr lange daran zu tragen haben. Und Haiti ist dazu leider ein Land, in dem es auch vor der Katastrophe schon ein erhebliches Maß an Armut, Gewalt und Ausbeutung gab, deswegen sind die haitianischen Kinder jetzt besonders bedroht.

Gerade diese Hilflosigkeit nutzen Kinderhändler skrupellos aus. Wie gehen sie dabei vor?

Ich will Ihnen ein Beispiel von einem Mädchen nennen, dass Kollegen in einem Krankenhaus gefunden haben: neun Jahre alt, ein sogenanntes "Restavec", das vom Land kommt und in die Großstadt geschickt wurde, um in einem fremden Haushalt zu arbeiten. Insgesamt gibt es etwa 200.000 dieser Restavecs in Haiti. Dieses Mädchen war zur Zeit des Erdbebens draußen und wurde von einem herab fallenden Stein verletzt. Das Haus wurde zerstört, und der Hausherr brachte das Kind in ein Lazarett, wo es versorgt wurde. Dann verschwand der Mann einfach. Das kleine Mädchen ist jetzt ganz allein auf sich gestellt, sie würde gern zurück aufs Land zu ihren Eltern, weiß aber den Weg nicht, hat kein Geld und ist komplett abhängig von den Erwachsenen, die sich jetzt um sie kümmern. Und in einem Land wie Haiti, wo viele Erwachsene skrupellos sind, ist dieses Mädchen jetzt akut gefährdet, Opfer von Ausbeutung zu werden, sexuell missbraucht zu werden. Schon vor der Katastrophe gab es über zweitausend dokumentierte Fälle von Kinder- und Menschenhandel in Haiti - und die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch höher.

Kann man sich überhaupt um alle Kinder kümmern?

Das ist in der gegenwärtigen Situation sehr schwierig. UNICEF-Mitarbeiter gehen zurzeit in die Lazarette, in die Kinderheime und andere Einrichtungen wie beispielsweise Notaufnahmelager. Dort versuchen sie, unbegleitete Kinder überhaupt erst einmal zu registrieren. Das kommt in eine Datenbank, und dann beginnt man mit der Suche. Diese Daten werden öffentlich ausgehängt. Und so ist es auch schon gelungen, einzelne Kinder wieder mit Verwandten zusammen zu bringen.

Gibt es emotionale Unterstützung, beispielsweise durch Psychologen?

Im Moment geht es noch darum, die Kinder zu finden und ihr Überleben zu sichern. Im nächsten Schritt ist das aber sicherlich zwingend notwendig. Gemeinsam mit den anderen Nichtregierungsorganisationen ist UNICEF dabei, Schutzzentren aufzubauen. Dort können insbesondere die kleinen Kinder sich aufhalten, dort bekommen sie Unterstützung. Sie können spielen, zeichnen und mit anderen über ihre Erfahrungen sprechen. Das ist noch keine Psychotherapie, aber es ist ein Stück Rückkehr zur Normalität, das in dieser Situation eine große Hilfe für die Kinder darstellt.

Welche Möglichkeiten hat die Internationale Gemeinschaft, um gegen den Kinderhandel in Haiti vorzugehen?

Da muss man verschiedene Schritte gehen. UNICEF hat mit der haitianischen Regierung vereinbart, dass konsequent kontrolliert wird, wenn Kinder ausreisen. Da wird beispielsweise geprüft, mit wem sie ausreisen und ob alle Papiere korrekt sind. Außerdem werden alle Waisenhäuser registriert und es wird geschaut, ob Kinder von dort einfach verschwinden. In Haiti kommt erschwerend hinzu, dass die fachlichen und rechtlichen Standards bei internationalen Adoptionen nicht immer gewährleistet sind. Da gibt es leider eine Grauzone zum Kinderhandel.

Viele Menschen würden gern ein Kind aus Haiti adoptieren. Wie steht UNICEF in dieser Situation zu Auslandsadoptionen?

Erstmal ist wichtig zu sagen, dass Auslandsadoptionen kein Instrument der Katastrophenhilfe und auch kein Instrument der Entwicklungshilfe sind. Sie sind individuelle Unterstützung für ein Kind, das sonst keine Chance hat. Und dafür gibt es bestimmte Regeln. Eine der Grundregeln ist, dass man schaut, ob nicht in der näheren Umgebung des Waisenkindes - beispielsweise bei Verwandten - eine Möglichkeit besteht, unterzukommen. In Haiti war es schon vor dem Erdbeben so, dass viele Kinder von ihren Müttern in Krippen gebracht werden, weil sie dort mit Nahrung versorgt werden. Das bedeutet aber nicht, dass diese Kinder auf sich allein gestellt sind. Deswegen warnen wir in dieser Situation davor, Kinder unkontrolliert ins Ausland zu bringen. Stellen Sie sich vor, in Deutschland käme es zu einer Katastrophe und chinesische Beamte würden hier einfliegen, Kinder einsammeln und zu neuen Familien nach China bringen. Auch das würde niemand verstehen.

Rudi Tarneden ist Pressesprecher des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF)

Das Interview führte Karin Jäger

Redaktion: Mirjam Gehrke