Grenzen der Macht
5. Juni 2003Den Stein ins Rollen gebracht hat die BBC: Der Sender wirft Blair vor, er habe im Februar 2003 den Geheimdienstbericht über die angeblichen Massenvernichtungswaffen des Iraks umgeschrieben, um so die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen. Blair hatte den Bericht mit den Worten zitiert: "Der Irak könne seine Massenvernichtungswaffen innerhalb von 45 Minuten einsetzen." Diesen Satz soll er nach BBC-Angaben persönlich eingefügt haben. Dabei beruft sich der Sender auf "Geheimdienst-Quellen". Die Diskussion wird mittlerweile in allen britischen Medien geführt - und auch im Parlament gerät der Premier mehr und mehr unter Druck.
Alle wütenden Dementis aus "No. 10, Downing Street" und eine Stellungnahme des Premierministers vor dem Unterhaus konnten die Vorwürfe bisher weder ausräumen noch entkräften. Denn die Auseinandersetzung bietet der Anti-Kriegsfraktion innerhalb der Labour-Partei im Unterhaus eine sehr gute Gelegenheit, um offene Rechnungen mit dem Premierminister zu begleichen. Tony Blair muss nun weitere Indiskretionen über die Medien von den Kriegsgegnern innerhalb der Regierung und seiner Partei fürchten.
Freund und Feind
Gefahr droht dem Premier inzwischen aber auch von den oppositionellen Konservativen. Bisher konnte Blair auf ihre Stimmen bei seiner Irak-Politik zählen. Nun allerdings kündigte Parteichef Iain Duncan-Smith - der eine lang ersehnte Chance wittert, Blair zu stürzen - einen Kurswechsel an und bläst zur Groß-Offensive gegen den Rivalen.
Blair hatte zunächst gehofft, weitere Auseinandersetzungen auf den geheim tagenden Geheimdienst-Ausschuss des Parlaments zu begrenzen. Jetzt aber muss er hinnehmen, dass der außenpolitische Ausschuss des Unterhauses seine Politik überprüft - und möglicherweise monatelang Zeugen in aller Öffentlichkeit verhört. Und selbst das geht einigen Labour-Hinterbänklern nicht weit genug: Unterstützt von der Opposition fordern sie die Einsetzung eines unabhängigen Tribunals und die Offenlegung aller Regierungs-Dokumente.
Hoch gepokert
Die Auseinandersetzung kommt nicht überraschend. Im Vorfeld des Irak-Kriegs hatte Blair seine Glaubwürdigkeit als Politiker in die Waagschale geworfen und dem Unterhaus zugesichert, man werde auf jeden Fall Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen finden.
Was damals als mutig gelobt wurde, sieht heute wie Leichtsinn aus: Bisher hat Blair nichts, aber auch gar nichts vorzuweisen. So sind immer mehr davon überzeugt, beim Irak-Krieg sei es Blair und dem US-Präsidenten George W. Bush von Anfang an und ausschließlich um einen Regimewechsel in Bagdad gegangen. Dafür hätte allerdings Blair damals weder eine Mehrheit im Unterhaus noch die Unterstützung der britischen Öffentlichkeit gewinnen können.
"Kollateralschäden"
Die Auseinandersetzung kommt Blair politisch äußerst ungelegen. Sie hat seine erfolgreiche Diplomatie im Nahen Osten und auf dem G-8-Gipfel in St. Petersburg und Evian überschattet. Ferner wurde seine sorgfältig vorbereitete Rede in Polen von der Öffentlichkeit in seiner Heimat ignoriert. Darin hatte er für den Beitritt Großbritianniens zur Euro-Zone geworben und seine Vision der Europäischen Union erläutert. Die Rede war für ihn auch eine gute Gelegenheit, um sich selbst ins Gespräch für das künftige Amt des EU-Präsidenten zu bringen.
Nun wird Tony Blair in den nächsten Wochen und Monaten seine Träume und Visionen auf die lange Bank schieben müssen. Ihm wird es in erster Linie nun darum gehen, das eigene politische Überleben zu sichern. Falls es sich herausstellt, dass der "Meister der Selbstdarstellung" gelogen hat, wird er zurücktreten müssen.