dOCUMENTA (13)
8. Juni 2012Ein dunkler Saal. Die Hand vor Augen sieht man kaum. Ans Ohr dringen nur Zisch- und Stöhnlaute. Der ahnungslose Documenta-Besucher, der den Raum betritt, ist verwirrt. Langsam nimmt er ein Dutzend Tänzer war, das sich um ihn herum bewegt. Orientierung ist gefragt. Wird man hier zu einem Teil eines Happenings? Oder bewegen sich die Tänzer auch ohne Zuschauer? Ein ebenso spektakuläres wie seltenes Raumerlebnis. Der deutsch-britische Künstler Tino Sehgal und seine Tanzkompanie sorgen für einen Höhepunkt der Kassler Kunstschau und stehen damit gleichzeitig für einen Trend dieser Ausgabe. Die "dOCUMENTA (13)" sprengt alle herkömmlichen Auffassungen von Kunst. Sehgals Inszenierung fügt sich ein in das Konzept der Chef-Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev.
Kunst oder Nicht-Kunst? Das ist die Frage
Sie habe kein Konzept, predigte Christov-Bakargiev im Vorfeld des Kassler Kunstspektakels immer wieder. Das klingt kokett, kann aber auch ein Konzept sein: Alles erlauben, alles möglich machen, über alles reden. Dass bei diesem vielen Reden über die dOCUMENTA (13) natürlich dauernd von irgendwelchen Konzepten gesprochen wurde, nahm die Kuratorin in Kauf. Was bleibt ihr auch anderes übrig? "Was diese Teilnehmer auf der dOCUMENTA (13) 'ausstellen', mag Kunst sein oder nicht, doch ihre Handlungen, Gesten, Gedanken und Kenntnisse erzeugen Verhältnisse und werden durch Verhältnisse hervorgebracht, die man als Kunst interpretieren kann", erklärte die umtriebige Christov-Bakargiev der versammelten Presseschar aus aller Welt. "Die Grenzen zwischen dem, was Kunst ist und was nicht, wird unwichtiger". Auch das ist ein Konzept: "Die dOCUMENTA ist ein Geisteszustand", wie die Kuratorin betont.
Alles Konventionelle wird verdammt
Am ehesten trifft Christov-Bakargievs Auffassung von Kunst der Begriff "Widerstand". Ihr Widerwillen gegen alles Herkömmliche, Konventionelle, gegen die ausgestellte Kunst des klassischen Museumsbetriebs, ist so ausgeprägt, dass dem alles untergeordnet wird. Das merkt man ihren Schriften und Reden an. Zum Glück aber zeigen sich die eingeladenen Künstler weit weniger theoretisch und versponnen. Insofern lässt sich schon zu Beginn dieser dOCUMENTA (13) konstatieren: Carolyn Christov-Bakargiev ist selbst ein zentraler Teil des Kunstspektakels - aber dann doch nicht so gewichtig, dass diese Kunstschau unter der Last ihrer Theoriegebäude zusammenbrechen würde.
160 Künstler hat Christov-Bakargiev nach Kassel geladen. Der in London geborene und in Berlin lebende Deutsch-Brite Tino Sehgal, Sohn eines Inders, ist einer davon. Von Hause aus Choreograph und Volkswirt, dazu bildender Künstler, schafft Sehgal mit seiner Performance ein "flüchtiges Werk der Kunstwelt und arbeitet konsequent daran Nichtsmaterielles herzustellen" (so die Kuratoren) und kommt somit Christov-Bakargievs Vorstellungen entgegen. Der Zuschauer hört und schaut und besinnt sich auf das eigene Ich. Wissenschaftler sämtlicher Couleur
Die Teilnehmer der dOCUMENTA (13) kommen, so Christov-Bakargiev, aus allen Bereichen der Kunst, aber auch aus anderen Sparten. Sie hat Wissenschaftler, Physiker und Biologen, Architekten und Landwirtschaftsplaner, Philosophen, Anthropologen, Wirtschaftstheoretiker, Sprach- und Literaturwissenschaftler und Dichter eingeladen. All diese Teilnehmer sollen Denkräume öffnen, konventionelle Vorstellung von bildender Kunst sprengen.
In dieses Schema passt auch der in Köln lebende David Link, Künstler, Medientheoretiker und Programmierer. Er ist Professor für "Experimentelle Technologien im Kunstkontext" in Leipzig. Bei seinem ersten dOCUMENTA-Auftritt beschäftigt er sich mit dem Thema "Mensch und Maschine". Auch Link unterläuft gängige Denkstrukturen: "Die meisten Menschen glauben, wenn sie an Computer denken, dass diese irgendwann in den 70er Jahren aus den USA kamen." Bereits kurz nach dem Krieg wurden aber vor allem in Großbritannien Computer gebaut. Einen dieser historischen Computer, den sogenannten "Manchester Mark 1", hat er nachgebaut. Dass die Pioniere der Programmierung damals diese Rechenmaschine ausgerechnet mit Software für die Generierung von Liebesbriefen gespeist haben, hat Link fasziniert. "In einer medienarchäologischen Herangehensweise konstruiert Link alternative Geschichten vernachlässigter und oft vergessener Technologien und schafft Szenarien, die die poetischen und affektiven Fähigkeiten von Technologie aufzeigen", so die Kuratoren der dOCUMENTA (13).
Neues Leben in alten Räumen
Der Amerikaner Theaster Gates wiederum hat eines der wohl größten und ungewöhnlichsten Projekte der dOCUMENTA (13) in Angriff genommen. Ein 1826 in Kassel gebautes mehrstöckiges Wohnhaus und Hotel, das Hugenottenhaus, das im Krieg schwer beschädigt wurde und seit den 1970er Jahren leer steht, hat Gates in eine Art deutsch-amerikanische Kulturkommune verwandelt. Schon seit Wochen leben und arbeiten dort junge Menschen aus Chicago und Kassel. Das Ziel des amerikanischen Künstlers und Aktivisten: neue Modelle des Miteinander-Lebens und des Kulturaustauschs zu entwickeln. Oder - wie es die dOCUMENTA-Macher ausdrücken: "dem üblichen Verlauf von Gentrifizierung soll entgegengewirkt werden". Stattdessen soll durch Kooperationen und dem gemeinschaftlichen Einsatz von Fähigkeiten, Ressourcen und Ideen das Leben vor Ort entscheidend verbessert werden. In Kassel steht das Hugenottenhaus allen Besuchern offen. Sie können jeden Raum betreten und ihn sich ansehen - ausgenommen die Schlafzimmer -, und sich mit den Bewohnern austauschen. Ein Stück gelebte Utopie und eine eindrucksvolle begehbare Skulptur.
Tänzer und Sänger in der Dunkelheit, eine neue Raumerfahrung für die Besucher. Mensch und Maschine im gemeinsamen Einsatz für die Poesie und die Liebe. Ein Haus als Zukunftslabor für gemeinsames Leben und Arbeiten. Dies sind nur drei von fast 160 Kunst-Ereignissen der dOCUMENTA (13). Carolyn Christov-Bakargiev hat mit ihrem Konzept, das keins sein will, der Weltausstellung in Kassel neue Horizonte eröffnet. Vielleicht weniger mit ihren theoretischen Einlassungen, als mit der Auswahl der Künstler und Wissenschaftler.