Grenzkontrollen in EU-Ländern stellen Schengen infrage
13. November 2019Lesen Sie diesen Artikel auch auf Arabisch, Englisch, Rumänisch, Russisch, Spanisch oder Urdu.
Innerhalb des Schengen-Raums können sich Personen und Waren frei über Grenzen hinweg bewegen. Die Vereinbarung zwischen den 26 Schengen-Staaten, zu denen die meisten Länder der Europäischen Union gehören, soll Wirtschaft und Bürgern zugutekommen. In den meisten anderen Teilen der Welt sind offene Grenzen zwischen Ländern nicht üblich.
Grenzkontrollen waren für vorhersehbare Ereignisse reserviert
Klare Regeln legen fest, wann und wie ein Schengen-Land vorübergehende Kontrollen an seinen Grenzen einführen kann. Bis vor einigen Jahren waren diese Wiedereinführungen selten, meist im Fall von vorhersehbaren Terminen wie Sportereignissen oder politischen Konferenzen: Portugal führte beispielsweise Grenzkontrollen während des NATO-Gipfels in Lissabon durch oder Dänemark während der Klimakonferenz in Kopenhagen. Island nennt den "Besuch von MC Hells Angels beim isländischen Motorradclub in Reykjavik" als Grund. Diese Art von Kontrollen dauern in der Regel nur wenige Tage und werden weit im Voraus geplant.
Sechs Länder haben in den letzten Jahren langfristige Kontrollen durchgeführt
Aber "seit September 2015 nutzen einige Länder alle rechtlichen Möglichkeiten des Schengen-Kodex, um die Grenzkontrollen auszuweiten", sagt der Migrationsexperte Yves Pascouau, leitender Berater des Brüsseler Think Tanks European Policy Centre (EPC). "Das ist noch nie dagewesen.“
Die folgende Grafik zeigt jedes Ereignis seit 2008, in dem ein Schengen-Mitgliedstaat wieder Grenzkontrollen eingeführt hat. Die senkrechte Linie markiert den September 2015, als eine große Zahl von Flüchtlingen in Westeuropa ankam.
Österreich, Deutschland, Slowenien und Ungarn führten im Herbst 2015 Kontrollen ein aufgrund eines "großen Zustroms von Personen, die internationalen Schutz suchen." Dies ist das erste Mal, dass überhaupt Migration als Grund für Grenzkontrollen genannt wird.
Bald darauf begannen sechs Schengen-Mitglieder, Kontrollen für längere Zeiträume einzuführen. Österreich, Deutschland, Dänemark, Schweden und Norwegen nannten Migration als Grund. Frankreich, als sechstes Land, führte nach den Anschlägen vom November 2015 in Paris erstmals Grenzkontrollen ein und verwies auf terroristische Bedrohungen. Heute, vier Jahre später, gibt es in allen sechs Ländern noch immer Kontrollen. Und sie verlängern sie abermals: Am 12. November 2019 beginnt eine weitere sechsmonatige Verlängerung.
"Von 2015 bis 2017 gab es eine rechtliche Grundlage für diese Kontrollen", sagt Yves Pascouau, der zu EU-Migrationsrecht promoviert hat, "aber seither sind sie nicht mehr fundiert." Artikel 29 des Schengener Grenzkodex ist die Rechtsgrundlage für Kontrollen über zwei Monate hinaus ist. Er ist für Fälle gedacht, in denen „aufgrund anhaltender schwerwiegender Mängel bei den Kontrollen an den Außengrenzen … das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt gefährdet ist“.
Maximal zwei Jahre dürfen Kontrollen laut den Schengen-Regeln dauern
Diese Regel ist als letztes Mittel vorgesehen für den Fall, dass ein Land am Rande des Schengen-Raums seine Außengrenzen nicht schützen kann und dadurch andere Mitgliedstaaten ernsthaft gefährdet. Sie erlaubt es, Kontrollen für bis zu sechs Monate wieder einzuführen, mit Verlängerungen "höchstens dreimal um einen weiteren Zeitraum von höchstens sechs Monaten“. Das ergibt eine maximalen Gesamtdauer von zwei Jahren. Aktuell sind die Kontrollen seit rund vier Jahren im Einsatz.
Das bedeutet nicht unbedingt, dass die Polizei die Pässe von allen kontrolliert, die die Grenze überqueren. Deutschland überwacht etwa nur einige der Grenzübergänge von und nach Österreich und führt intensivere Schleierfahndung im Gebiet rund um die Grenzen durch. Die schwedische Regierung hörte 2017 auf, systematisch alle Reisenden an der dänisch-schwedischen Grenze zu kontrollieren, und wechselte stattdessen zu zufälligen Kontrollen und automatisierten Überwachungssystemen.
Empfehlung vom Rat der Europäischen Union nötig
Will ein Mitgliedstaat sich auf Artikel 29 berufen, gibt es ein bestimmtes Verfahren: Der Staat bittet die EU-Institutionen, Grenzkontrollen zu empfehlen. Der Rat der europäischen Union, der sich aus den Ministern der EU-Länder zusammensetzt, gibt dann diese Empfehlung heraus, und die Mitgliedstaaten folgen ihr. Genau das passierte 2016: Am 12. Mai 2016 empfahl der Rat der Europäischen Union Österreich, Dänemark, Deutschland, Schweden und Norwegen, ihre Kontrollen um sechs Monate zu verlängern.
Grund dafür war eine Untersuchung an den griechischen Außengrenzen, die Mängel in der Grenzsicherheit feststellte. Griechenland bekam ein Katalog von Maßnahmen vorgelegt, um die Situation zu verbessern. In den nächsten Monaten verlängerte der Rat seine Empfehlungen für Grenzkontrollen, bis im November 2017 die maximale Gesamtdauer erreicht war, die nach dem geltenden Gesetz möglich war.
Die Situation ist politisch, sagt Experte
Seitdem haben alle fünf Länder die Kontrollen auf nationale Verantwortung fortgeführt, aufgrund "der Sicherheitslage in Europa und der Bedrohungen durch die anhaltend starken Sekundärbewegungen." Frankreich hat nie eine Empfehlung des Rates erhalten, aber ebenfalls weiterhin Grenzkontrollen durchgeführt mit Hinweis auf die "anhaltende terroristische Bedrohung."
"Wir befinden uns jetzt in einer rein politischen Situation, nicht in einer rechtlichen und nicht in einer faktenbasierten", sagt Yves Pascouau. "Entweder müsste es eine angemessene rechtliche Beurteilung der aktuellen Situation geben, oder die Regeln müssten geändert werden." Die Europäische Kommission oder ein anderer Mitgliedstaat könnte theoretisch den Europäischen Gerichtshof bitten, die Angelegenheit zu untersuchen. Bislang ist das jedoch nicht passiert.
Frist wird bei jeder Verlängerung zurückgesetzt, sagt Deutschland
Auf die Frage, ob die derzeit stattfindenden Grenzkontrollen rechtmäßig sind, verwies die Kommission auf die Artikel 25 und 26 des Schengener Grenzkodex, ohne jedoch zu erläutern, wie sie auf die gegenwärtige Situation anwendbar sind. Die beiden Artikel bilden den grundlegenden Rahmen für die Wiedereinführung von Kontrollen: Nur unter außergewöhnlichen Umständen, bis zu 30 Tage, verlängerbar auf bis zu 6 Monate, es sei denn, eine Situation nach Artikel 29 tritt ein.
Deutschland war das erste Land, das am 13. September 2015 wieder Kontrollen eingeführt hat, und es hatte seit 2006 die meisten Tage mit Grenzkontrollen von allen Schengen-Staaten. Das Innenministerium, das für die Kontrollen an den deutschen Grenzen zuständig ist, teilte der DW mit: „Die zeitlichen Vorgaben des Schengener Grenzkodex beziehen sich nach Auffassung des BMI auf jede individuelle Neuanordnung der vorübergehenden Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen.“ Das würde bedeuten, dass mit jeder halbjährlichen Verlängerung die in den Schengen-Gesetzen festgelegten Fristen zurückgesetzt würden.
Das Europäische Parlament ist mit dieser Interpretation nicht einverstanden. "Wir glauben, dass es sich hier um eine politische Entscheidung handelt und keine legale", sagt die Abgeordnete Tanja Fajon, die den Positionsbericht des Parlaments zu den Grenzkontrollen verfasst hat. "Der Schengen-Grenzkodex ist für uns klar. Es gibt eine absolute Obergrenze von zwei Jahren, die erst ausgereizt werden kann, wenn eine Evaluation Mängel aufzeigt, die den gesamten Schengen-Raum gefährden. Diese Bedingungen gelten derzeit nicht, und die in Artikel 29 festgelegte Frist ist abgelaufen.”
Tanja Fajon: Kommission will den Status quo nicht ändern
Das Parlament hat die Kontrollen im Mai 2018 offiziell verurteilt. Tanja Fajon ist der Meinung, dass sie zu einem ideologischen Thema geworden sind: "Früher war jede Wiedereinführung von Grenzkontrollen mit spezifischen Maßnahmen verbunden, die umgesetzt werden sollten, um die Situation zu entspannen. Wir sind heute in der Lage, jede Person zu überprüfen, die die Grenze überquert, aber die Kontrollen sind immer noch vorhanden." Der Eindruck im Parlament sei, dass die Kommission die Mitgliedsstaaten nicht vor Gericht bringen wolle. "Es liegt nicht im Interesse Deutschlands, Frankreichs oder der Kommission, den Status quo zu ändern, denn sie können tun, was sie wollen, und die Kommission muss nicht gegen sie vorgehen", sagt sie. Yves Pascouau stimmt zu: "Politisch könnte sich niemand vorstellen, dass die Kommission gegen ein Land wie Deutschland vorgehen würde."
Deutschland nennt illegale Einreisen und anhaltende Migration als Grund
Abgesehen von der Frage der Rechtmäßigkeit sagte das Bundesinnenministerium dem DW, dass die Grenzkontrollen aus „migrations- und sicherheitspolitischen Gründen“ angeordnet wurden. In einer Kleinen Anfrage aus dem Juni 2019 erläutern sie, auf welche Faktoren sie ihre Entscheidung stützen. Sie nennen darin die "nach wie vor zu hohe" Anzahl unerlaubter Einreisen sowie der an der deutsch-österreichischen Landesgrenze entdeckten Schleuser, die Anzahl der Asylanträge und das "erhebliche Migrationspotenzial auf der ostmediterranen Route.“
Illegale Migration in Deutschland niedriger als 2014
Laut den Kriminalstatistiken der letzten Jahre und den Lageberichten der Bundespolizei sind viele dieser Zahlen inzwischen so weit gesunken, dass sie unterhalb der Werte von 2014 liegen.
In Deutschland wurden 2018 etwas mehr als 30.000 unerlaubt Einreisen registriert, ein Wert zwischen denen von 2013 und 2014. Die Zahl der Asylanträge ist auf ähnliche Weise gesunken, ebenso die Anzahl erfasster Schleuser.
Auch illegale Grenzübertritte an den Außengrenzen sind gesunken
Seit 2015 wurden eine Reihe von Maßnahmen zur Stärkung der europäischen Außengrenzen umgesetzt: Frontex wurde zur Europäische Grenz- und Küstenwache deutlich erweitert, EU und Türkei unterzeichneten 2016 ein Abkommen, um den Druck auf Griechenland zu verringern, und an den Schengen-Grenzen wurden intelligentere Informationssysteme sowie andere Verstärkungs- und Unterstützungsmechanismen eingerichtet.
All dies hat dazu geführt, dass deutlich weniger Menschen die europäischen Außengrenzen überschreiten. So wurden beispielsweise auf der Strecke durch das östliche Mittelmeer, die Deutschland als besorgniserregend bezeichnet, 56.561 illegale Übertritte im Jahr 2018 erfasst. Das sind deutlich weniger als die Spitze von 800.000 und entspricht eher dem Niveau von 2011.
Ob die derzeitige Situation noch immer Kontrollen an den Binnengrenzen rechtfertigt, ist eine Frage der politischen Diskussionen. So oder so stellt sich in Brüssel die Frage: Wie soll es mit den Schengen-Bestimmungen weitergehen? Angesichts der Herausforderungen der letzten Jahre ist geplant, die Schengen-Bestimmungen zu überarbeiten. Im September 2017 schlug die Kommission eine Änderung des Schengener Grenzkodex vor, die unter anderem die maximal mögliche Dauer der Kontrollen auf drei Jahre verlängern sollte. Das Europäische Parlament hingegen will die bereits bestehenden Regeln verschärfen, so dass das absolute Maximum bei einem Jahr liegen würde und jede Verlängerung über sechs Monate hinaus eine Einschätzung der Kommission nötig macht.
Keine Einigung in Sicht
Im Moment sieht es aus, als seien die Positionen nicht vereinbar. "Die Verhandlungen sind ins Stocken geraten", sagt Tanja Fajon. "Die neue Kommission könnte sogar den aktuellen Vorschlag zurückziehen, was unserer Meinung nach ein wirklich schlechtes Zeichen wäre. Die Zukunft des Schengen-Raums ist düster."