Greta Thunberg findet die EU zu lahm
4. März 2020"So voll war der Raum hier noch nie", sagte der grüne Abgeordnete Bas Eickhout als Greta Thunberg den überfüllten Sitzungsaal des Umweltausschusses im Europäischen Parlament in Brüssel betrat. Drei Dutzend Kamerateams empfingen die 17 Jahre alte international bekannte Klimaschutzaktivistin. Es wurde schnell still im Saal als Thunberg ihren kleinen weißen Zettel ausfaltete, auf dem sie ihre Rede aufgeschrieben hatte. "Ich habe meine Schulausbildung geopfert, um gegen Ihre Untätigkeit zu protestieren", erklärte sie den Abgeordneten mit ruhiger klarer Stimme. "Sie haben im November in diesem Parlament den Klimanotstand ausgerufen, sich das brennende Haus von außen angesehen, sind dann wieder hineingegangen und haben nichts gemacht. Das hat doch keinen Sinn!"
Thunberg macht der EU Vorwürfe
Vor ihrem Auftritt im Europaparlament hatte Greta Thunberg an der wöchentlichen Sitzung der EU-Kommission teilgenommen. Die 27 EU-Kommissare hatten die schwedische Schülerin eingeladen, um bei der Verabschiedung des Entwurfs für das erste EU-Klimaschutzgesetz dabei zu sein. Von dem, was dort beschlossen wurde, zeigte sich Greta Thunberg allerdings sehr enttäuscht. "Dieses Gesetz stellt eine Kapitulation dar. Sie geben die Klimaschutzziele von Paris und die Absicht, die Welt zu retten, auf", zürnte sie im Parlament. Das Gesetz sei wirkungslos, weil es die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Erderwärmung ignoriere. Europa fehle es an Bewusstsein und Führung, vor allem aber an Zeit, sagte die Klima-Aktivistin.
Und dann gab es noch eine Breitseite gegen das neue Lieblingsthema der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: den "Green Deal", also eine neue Umweltpolitik. Greta Thunberg hielt der EU-Kommission ganz ruhig vor: "Mit der Natur können sie keinen Deal machen. Wir werden Ihnen nicht erlauben, mit unserer Zukunft Geschäfte zu machen." Die meisten Abgeordneten des Umweltausschusses erhoben sich nach dieser Standpauke von ihren Sitzen und klatschten lange Beifall. Greta Thunberg nahm die Ovationen ohne sichtbare Regung hin.
"Klimaschutz ist Religion"
Der liberale Vorsitzende des Umweltausschusses, Pascal Canfin, lobte Gretas Engagement und ihre Bewegung von demonstrierenden Schülern: "Wir brauchen die Energie der jungen Leute." Noch wichtiger wäre es aber, sich an die Klimaschutz-Skeptiker im Weißen Haus, in Brasilien, Australien oder China zu wenden, sagt Canfin. Scharfe Kritik an Thunbergs Auftritt kam aus der rechten Ecke des Parlaments. Die italienische Abgeordnete Silvia Sardone von der rechtspopulistischen Lega sagte, die jungen Leuten seien wohl kaum bereit, auf Smartphones, billige Flüge und Internet zu verzichten. Klimaschutz sei mittlerweile eher eine Religion. Auch die Kritik nahm Greta Thunberg wie zuvor den Applaus ohne erkennbare Regung hin.
Nur ein paar Häuserblocks vom Parlament entfernt mühte sich der EU-Klimaschutzkommissar Frans Timmermans im Pressesaal der EU-Kommission zur gleichen Zeit, die Inhalte des neuen Klimaschutzgesetzes zu verteidigen. "Ich habe Greta Thunberg heute sehr genau zugehört", sagte Timmermans zur zweiten gemeinsamen Sitzung mit Greta Thunberg. Die umjubelte Aktivistin war im Februar 2019 schon einmal zu Gast in der Brüsseler Machtzentrale der EU. "Wir sind alle inspiriert von der Graswurzel-Bewegung, die sie geschaffen hat. Ohne sie würde es heute die 'Green-Deal'-Politik der Kommission vielleicht nicht geben." Sie habe ja Recht, wenn sie den EU-Kommissaren vorhalte, der Planet gehöre nicht den Mächtigen, sondern der ganzen Menschheit.
Erstes EU-Klimaschutzgesetz
Das Ziel, diese vor dem Klimawandel zu bewahren, ist nun im ersten Klimaschutzgesetz der EU festgeschrieben: Ab 2050 soll die Staatengemeinschaft klimaneutral wirtschaften, also nicht mehr Treibhausgase ausstoßen, als von natürlichen Speichern in Wäldern und Ozeanen aufgenommen werden kann. Ein Zwischenziel für das Jahr 2030 will die EU-Kommission erst im September festlegen.
Um dieses Zwischenziel ist unter den Mitgliedsstaaten ein heftiger Streit entbrannt. Zwölf Staaten fordern in einem Brief an die Kommission 50 oder 55 Prozent Reduktion als Ziel. Andere Staaten bremsen. Deutschland geht in seinem Klimaschutzplan von 40 Prozent Reduktion der Abgase bis zum Jahr 2030 aus. Jedes EU-Mitgliedsland muss eine nationale Strategie vorlegen, wie es mit welchem Energiemix die Klimaschutzziele erreichen will. Das haben bislang nur zwölf der 27 Mitgliedsstaaten getan. Nach Angaben der EU-Kommission stößt die EU heute etwa 23 Prozent weniger Treibhausgase aus als 1990.
Streit um Förderung und Kontrollen
Ärmere und östliche Mitgliedsstaaten wie Polen oder Rumänien sehen die ambitionierte "Green-Deal-Politik" sehr skeptisch. Polen und auch Deutschland, die noch relativ viel Kohle verstromen, sollen aus einem neuen Fonds der EU Ausgleichszahlungen erhalten. Über die Höhe dieser Zahlungen und die Finanzierung wird noch heftig gestritten. Die EU-Kommission will die Klimastrategie und die Fortschritte von 2030 an alle fünf Jahre überprüfen. Im Zweifelsfall, so will es EU-Klimaschutzkommissar Timmermans, soll die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten dann auch konkrete Maßnahmen vorschreiben können, grüner zu werden.
Wie verbindlich diese Vorschriften sein sollen und wie sie durchgesetzt werden sollen, ist ebenfalls umstritten. Parallel zum Klimaschutzgesetz will die EU-Kommission ein riesiges Investitionspaket auf den Weg bringen. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen stellt sich vor, dass Staaten und private Investoren in den nächsten zehn Jahren rund eine Billion Euro aufbringen sollen. Dieser "Green Deal" sei auch eine Chance, mit neuen Technologien und mit neuen Arbeitsplätzen auf eine kohlenstofffreie Wirtschaft zuzusteuern, heißt es in den Papieren der EU-Kommission.
Wie viel Zeit bleibt?
Das Klimagesetz muss jetzt von den Mitgliedsstaaten und dem Europäischen Parlament gebilligt werden. Zum Verdruss von Greta Thunberg und vielen Europaabgeordnete könnten ein bis zwei Jahre vergehen, bis es in Kraft tritt: "Wir haben keine Zeit mehr. Es muss jetzt gehandelt werden", sagen sie unablässig. Es müsse noch in diesem Jahr etwas passieren, und zwar vor dem UN-Klimagipfel im November in Glasgow.
Dass es Zeit zu handeln sei, sagte auch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Allerdings hat sie einen Zeithorizont zur Klimaneutralität von 30 Jahren im Auge. Dann wäre Greta Thunberg 47 Jahre alt, wohl unvorstellbar weit weg für einen Teenager. Frans Timmermans, der EU-Kommissar, der für den 'Green Deal' verantwortlich ist, widersprach Greta Thunberg in einem Punkt. Es gehe nicht darum, den Planeten zu erhalten: "Wir retten nicht den Planeten, der wird ohne uns überleben. Es geht darum, die Menschen, die Menschheit zu retten."