Griechenland: Impfpflicht für Ü60
1. Dezember 2021Es sind zur Zeit 100 überwiegend ältere Menschen, die in Griechenland täglich an den Folgen einer Corona-Erkrankung sterben, viele von ihnen Ungeimpfte. Dennoch rechnete bisher niemand mit einer Impfpflicht für alle über 60-Jährigen. Doch nun wurde sie von der griechischen Regierung eingeführt.
Während einer Kabinettssitzung am Dienstag (29.11.2021) sagte Premierminister Kyriakos Mitsotakis, dass es derzeit 580.000 ungeimpfte griechische Bürgerinnen und Bürger im Alter von über 60 Jahren gebe und fügte hinzu, dass die Mehrheit der intubierten Covid-Patienten und auch der Corona-Toten über 60 Jahre alt sei. Bis zum 16. Januar 2022 sollen alle ungeimpften Bürger dieser Altersgruppe entweder einen Termin zur Impfung vorweisen oder die erste Impfdosis erhalten haben. Ist das nicht der Fall, wird ab diesem Zeitpunkt ein Bußgeld von 100 Euro pro Monat Nichtimpfung verhängt. Die Verwaltungsstrafe soll automatisch von der Steuerbehörde AADE erhoben werden. Das so eingetriebene Geld soll bei der Finanzierung staatlicher Krankenhäuser verwendet werden.
Mitsotakis sagte, die Entscheidung sei hart gewesen, aber "ich fühlte mich verpflichtet, den Schwächsten beizustehen, auch wenn es ihnen vorübergehend missfallen könnte". Mit den Geldstrafen versucht die griechische Regierung die Impfquote anzuheben. Im Moment sind rund 63 Prozent der Bevölkerung zweimal gegen das Coronavirus geimpft. Ob die Angst vor der Strafe die Menschen motivieren kann?
Blankoscheck für Polizei und Klerus
Das wird sich bald an der Zahl der Impftermine zeigen. Doch die ersten Reaktionen in sozialen Medien waren eher negativ. Es gehe um eine Strafmaßnahme gegen ältere Menschen, betonen viele griechische Nutzer, während für Berufsgruppen, die mit vielen Menschen Kontakt haben, etwa Polizeibeamte, Angehörige der Streitkräfte oder Geistliche, keine Impfpflicht besteht. In Griechenland muss nur das Krankenhauspersonal geimpft sein. Wer sich weigert, muss zuhause bleiben - unbezahlt.
Der bekannte Verfassungsrechtler Xenofon Contiades ist der Ansicht, ab dem Zeitpunkt der Verfügbarkeit von Impfstoffen sollten Einschränkungen und Sanktionen ein Anreiz für alle sein, sich impfen zu lassen. "Die Verhängung von Geldbußen gegen diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen, ist jedoch meiner Meinung nach verfassungswidrig, da sie eine übermäßige und unangemessene Einschränkung der Autonomie des Individuums darstellt, egal wie wütend wir über ihre Haltung sind", schreibt er auf Facebook und fügt hinzu: "Es geht auch um Fragen der Altersdiskriminierung und der zugrunde liegenden sozialen Diskriminierung, das heißt, um die Tatsache, dass für einige 100 Euro sehr viel sind, für andere aber nur ein einfaches Trinkgeld."
In der Sackgasse
Elias Mossialos, ein prominenter Professor für Gesundheitspolitik von der London School of Economics (LSE), hätte sich eher eine Mischung von einschränkenden Maßnahmen und positiven Anreizen gewünscht. "Aber jetzt sind wir in einer Sackgasse angekommen", sagte er dem Fernsehsender ANT1. In der Tat: Kurz vor dem Jahresende stehen die Krankenhäuser unter großem Druck, fast überall sind die Ärzte an ihre Grenzen gekommen.
Ioanna Nezi hat kein grundsätzliches Problem mit einer Impfpflicht. Problematisch findet die dreifach geimpfte Rentnerin, die im Athener Stadtteil Pangrati wohnt, jedoch die Art und Weise, wie diese angekündigt wurde und zudem ihre Beschränkung auf eine Alterskategorie. "Es gab nicht einmal den Hauch einer Debatte im Parlament, kein Eingeständnis, dass die Politik nicht genug getan hat, um der Impfskepsis vieler Menschen zu begegnen", meint sie. "Die Botschaft lautet, die Leute seien selbst Schuld, die Politik hat alles perfekt gemacht."
Eingeständnis des Scheiterns
Tatsächlich gab es im Parlament keinerlei ernste Diskussionen über die Pandemie - nur Fernsehansprachen des Premierministers. Bei seiner elften Ansprache seit dem Ausbruch der Corona-Krise, am 18. November, behauptete Mitsotakis, eine Ermutigung zum Impfen habe "mehr Kraft als allgemeine Aphorismen über Zwang". Zwei Wochen zuvor, am 3. November, hatte er in einem Interview mit dem Fernsehsender MEGA Channel gesagt: "Die Erfahrung hat uns gezeigt, dass die Abwehrreaktionen desto größer ausfallen, je härter wir sind und je mehr Verpflichtungen wir auferlegen." Am 30. November kam dann doch die Impfpflicht für über 60-Jährige.
Diese Entscheidung ist praktisch ein Eingeständnis des Scheiterns des Impfprogramms. Zu lange sah die Regierung zu, wie Impfgegner im Fernsehen ihre Theorien mühelos präsentieren konnten. Zu lange wagte sie nicht, die mächtige orthodoxe Kirche zur Kooperation zu drängen. Zu lange versuchte sie, ihr mittelmäßiges Pandemie-Management als Erfolgsstory zu verkaufen, statt eine kluge Impfkampagne zu starten und das Gesundheitssystem zu stärken. Nun, angesichts der Omikron-Variante, der Proteste von Ärzten und einer hohen Zahl an Toten scheint es, als suche die Regierung die Schuld bei den Ungeimpften.
"Mangelnde Empathie"
Und die Opposition? Sie weist vor allem auf die Widersprüchlichkeit der Regierungspolitik hin. Der Ex-Premier und Vorsitzende der linken Syriza, Alexis Tsipras, kritisiert den "Mangel an Planung und an Strategie der Regierung" und bezeichnet den konservativen Premierminister als "Saboteur des Impfens". Tsipras befürchtet, dass die Impfpflicht für über 60-Jährige zu einer "Welle von Abwehrreaktionen führen wird, anstatt das gewünschte Ergebnis, also eine bessere Impfquote, zu erzielen". Sein Vorschlag: Mit finanziellen Anreizen diejenigen fördern, die zur Erstimpfung gehen.
Die Sozialdemokraten von der Partei KINAL unterstützen die Impfpflicht, werfen der Regierung aber zu spätes Agieren vor und behaupten, die jetzige Entscheidung sei ein Zeichen von Panik. Klar gegen die Impfpflicht ist die rechtspopulistische Partei Griechische Lösung (EL) - sie bezeichnet die Maßnahme als "menschenverachtend".
Die bitterste Bemerkung zum Stand der Pandemie und der öffentlichen Debatte in Griechenland machte auf Twitter die bekannte junge Journalistin Natascha Jamali: "Dass wir uns mehr mit den 100 Euro Bußgeld und weniger mit den 100 Toten pro Tag beschäftigen, ist ein Eingeständnis mangelnder Empathie."